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unteren Classe sich befinde. Im Gegentheil, wir hegen die auf
vielfacher Erfahrung beruhende vollendete Ueberzeugung, dass sich
unter derselben, namentlich in einem altrepublikanischen Staate,
ein viel grösserer Prozentsatz derjenigen Menschen finde, wie sie
eigentlich für ein Gemeinwesen und seinem dauernden Bestand am
allerunentbehrlichsten sind. Die besten Menschen, die wir in
unseren heutigen Staaten haben und durchschnittlich auch die
einsichtigsten, verständigsten, arbeitsamsten, geduldigsten, mit
ihrem Loose zufriedensten, befinden sich kaum unter den „hohen
Herrschaften“, oder den Reichen, oder Gelehrten, sondern viel
wahrscheinlicher unter dem sog. kleinen Volke, das mühsam von
seiner Hände Arbeit lebt. Es sind nicht nur die „Heiligen“, die
vorzugsweise in dieser Classe wachsen, sondern nach unserer
Ueberzeugung auch die Verständigen, mit sich selbst Einigen,
wahrhaft Weisen dieser Welt und Jeder, der dieselben nicht
kennt und ihre Bekanntschaft nicht sucht und hochschätzt, der
entbehrt für sich selbst ein nicht zu übertreffendes Bildungsmittel
und kennt überhaupt die wirklichen Zustände und Bedingungen,
ja die wirklichen Genüsse dieses Lebens nicht. Sehr viele der
sogenannten Gebildeten leben aber eben von Jugend auf bis zu
ihrem Tode in einer ganz künstlichen, im Grunde sehr engen
und kleinlichen, Welt und lernen von ihren Mitlebenden auch nur
diejenigen kennen, welche in dem gleichen Gewächshause ein-
gesperrt sind. Ja sie setzen sogar einen besonderen Werth auf
eine solche Abschliessung und Gefangenschaft, die sie „Exclusivität“,
„Distinction“ nennen, deren Oede sie allerdings öfter instinctiv ın
dumpfer Langeweile empfinden '?*). Sie würden nicht blos glücklicher
einer Classe in die andere muss möglichst erleichtert und die Selbstachtung der
sogenannten untern Classen erhöht werden, die ebenso nothwendig und in
ihrer Art und Weise und für ihren Beruf oft sogar ebenso gebildet, unter
allen Umständen aber ebenso aller Ehren werth sind, als die oberen. Sie
brauchen sich eben beide gegenseitig, der Eine nicht weniger als
der Andere und nur aus diesem Contact entsteht die wahre Bildung und
die wahre Wohlfahrt des Staates, weder aus einer bloss geträumten allgemeinen
Gleichheit, die sich nie verwirklichen lässt, noch aus der dermalen vorhan-
denen, von gegenseitigem tiefem Misstrauen erfüllten Abschliessung.
134) Mitunter bloss kommt ihnen, etwa in Ferienaufenthalten, oder ausser-
halb des eigenen Landes, der Gedanke, „mit dem Volke zu verkehren“, oder