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geben jedoch zu, dass jenen in Gtesetzesform erlassenen Ver-
fügungen, durch welche, entgegen dem allgemeinen Rechtszustande,
auch nur ein bestimmtes Rechtsverhältniss, sei es zum Vor-
theile, sei es zum Nachtheile einer Person oder einer Gruppe von
Rechtssubjekten geregelt wird, der Charakter von Rechtsnormen
nicht abgesprochen werden könne ®). Wir möchten sohin auch
nicht läugnen, dass solche Verfügungen ein wahres Gesetz reprä-
sentiren, verlangen aber, dass sich die Verfügung thatsächlich
auch äusserlich als eine solche darstelle, die nicht in Gemäss-
heit des allgemeinen Rechtszustandes, sondern geradezu gegen
denselben erlassen wurde. Auf das Letztere werden wir noch
später zurückkommen.
Worin besteht nun also die Discrepanz der Anschauungen ?
Lediglich darin, dass von der einen Seite behauptet wird, der
Staatsvoranschlag enthalte wirkliche Rechtssätze, wäh-
rend dies von der anderen Seite entschieden in Abrede gestellt
wird. Untersuchen wir, welche Anschauung den thatsächlichen
Verhältnissen entspricht.
Vor Allem ist nicht in Abrede zu stellen, dass das sog.
Finanzgesetz in der That Rechtssätze enthalten kann. So ist
jener Theil des Staatsvoranschlags, durch welchen den Staats-
bürgern eine in den bisher massgebenden Normen nicht statuirte,
6) In dieser Hinsicht modificiren wir unsere Ausführungen in dem
Aufsatze: „Das richterliche Prüfungsrecht in Ansehung der Giltigkeit von
Gesetzen, Verordnungen und Spezialverfügungen (Samitsch’s Zeitschr. für
Verwaltungsrechtspflege, III. Bd. [1879], S. 3 ff. Die von uns daselbst
anerkannte und besonders von Zorn (in Hirth’s Annal. 1885, 8. 304) betonte
Unmöglichkeit, vom allgemeinen Standpunkte aus den Begriff des Gesetzes
gegenüber jenem der Verordnung gegenständlich abzugrenzen, kömmt
hier weiter nicht in Betracht. Denn daraus, dass in der constitutionellen
Monarchie eine allgemein verbindliche Norm nur dann als Gesetz bezeichnet
werden kann, wenn selbe mit Zustimmung der Volksvertretung erflossen ist,
folgt nicht, dass alle unter Beobachtung dieser Form zu Stande gekommenen
Akte auch wirkliche Gesetze seien. Es ist Sache des positiven Verfassungs-
rechtes, zu bestimmen, ob die vollziehende Gewalt auf Ausführungsverord-
nungen beschränkt sein, oder auch berechtigt sein solle, eventuelle Lücken
der Gesetzgebung auszufüllen, beziehungsweise in welchem Umfange Letzteres
statthaft sei. Keinerlei positive Anordnung kann hingegen einen Vollzugsakt
zu einem wahren Gesetze machen.