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sei die Constatirung einer Entwickelung werthlos. Das ist aber
vollkommen unrichtig. Das erste ist Constatirung und Beschreibung
von Typen, mögen dieselben in Einzelerscheinungen oder als
Entwickelungen auftreten, das zweite ist das Aufsuchen der
wirkenden inneren Gründe. So gehen alle Wissenschaften zu
Werke. Uebrigens stellt die Entwickelung selbst bereits eine Causal-
kette dar, von der die Forschung zu höheren Ursachen aufsteigen
kann. Der Zeit nach ist dies aber, ebenso wie die ethische
Beurtheilung der Erscheinungen, eine Aufgabe zweiter Ordnung.
Richtet sich der vorige Einwurf gegen Vernachlässigung der
Classification der Erscheinungen, namentlich nach ihren ethischen
Qualitäten, so geht der folgende noch tiefer, indem er den Ver-
tretern der neuen Richtung leichtfertiges Bauen aus schlechtem
Material, Festhalten an einer ungenügend begründeten, angeblich
fundamentalen Lehre von einer Geschlechtsgenossenschaft der
Urzeit, Mangel an Quellenkritik vorhält und zum Schluss gelangt,
dass hier bloss rudimentäre Vorarbeiten vorliegen, deren Werth
erst durch die Zukunft geprüft werden wird. Nun ist es freilich
sicher, dass eine zugleich so junge und so schwierige Wissenschaft
wenige Ergebnisse aufweist, die in ihren Einzelheiten über alle
Zweifel erhaben und nicht Gegenstand künftiger Verification und
Richtigstellung wären, allein dasselbe Schicksal theilen andere,
ältere und durch ihr Alter accreditirte Wissenschaften, so namentlich
die vornehmste und älteste unter ihnen: die Philosophie.
Die Sachlage wird zunächst so dargestellt, als wären die in
der Urgeschichte der Völker entdeckten Gleichmässigkeiten wissen-
schaftlich völlig indifferent und die Aufgabe der Wissenschaft
bestände nur in „Auffindung und Klarstellung der Momente,
welche es bewirken, dass die äusserlich gleichen Umstände den-
noch zu differenten Ergebnissen geführt haben“. Dieses Urtheil
bedarf der Widerlegung. Würde sich die neue Wissenschaft
auch gar keine andere Aufgabe stellen, als eine Gleichmässigkeit
der Erscheinungen, einen gemeinsamen Ausgangspunkt derselben
auf allen Gebieten des Lebens, auf dem Gebiete des Rechtes
also eine Reihe von Urinstitutionen zu entdecken, so wäre hie-
mit allein ihre Existenzberechtigung sichergestellt; die Differenzi-
rung der Urinstitutionen in späterer Zeit wäre eine neue, grossen-