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Der zweite Theil des Art. 60 der Reichsverfassung will
also dem Bundesrathe und dem Reichstage das Recht einräumen,
die Grenze zu bestimmen, über welche hinaus das Heer im
Frieden nicht dauernd präsent gehalten werden darf, deshalb
soll die Friedenspräsenzstärke „im Wege der Reichsgesetzgebung“
festgestellt werden.
In dem Streite, zu welchem jede Neufeststellung der Friedens-
präsenzstärke des Heeres Anlass gegeben hat, musste stets die
Interpretation des Wortes „Reichsgesetzgebung“ im Sinne des
Art. 60 eine hervorragende Stelle einnehmen.
Von der einen Seite wurde die in Art. 60 geforderte Fest-
stellung „im Wege der Reichsgesetzgebung“ als Gegensatz zur
Feststellung durch die Verfassung angesehen und behauptet,
eine Feststellung durch das jährliche Etatsgesetz sei nicht nur
dem Wortlaute der Verfassung nach zulässig, sondern auch dem
Geiste derselben durchaus entsprechend. Von der anderen Seite,
der der Regierung, machte man geltend, es sei unzweifelhaft
der Wille des Gesetzgebers gewesen, die Feststellung der
Friedenspräsenz der blossen jährlichen Budgetbewilligung und
ihren Schwankungen zu entziehen, mithin erfordere der Begriff
der „Reichsgesetzgebung“ ein Gesetz im eigentlichen Sinne des
Wortes, und zwar ein dauerndes, d. h. ohne fixirten Endtermin
seiner Gültigkeit ??).
Eine dritte Auffassung endlich ging dahin, es sei allerdings
die Regierung dem Reichstage gegenüber durch die Bestimmung
des Art. 60 berechtigt, eine Feststellung der Friedenspräsenz-
stärke durch ein Specialgesetz (im Gegensatze zum Etatsgesetz)
2?) Man vgl. die Darstellung der geschilderten gegensätzlichen Auf-
fassungen, wie sie gelegentlich der Commissionsberathung des Reichsmili-
tärgesetzes zum Ausdruck kamen, in der Berichterstattung des Abgeord-
neten MigQueL (Sten. Ber. II. Legislaturperiode, 1. Session 1874, S. 747 ff.).
Die Beratliungen der Novellen von 1880 und 1887 drehen sich fast nur um
diesen Punkt.