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reworfen. So ist es wesentlich die Methode und die Form der Dar-
tellung, durch welche eine neue systematische Bearbeitung des Reichs-
staatsrechtes heute hervorragen kann.
Was zunächst die Methode anbelangt, so ist hier der springende
Punkt derselbe geblieben, wie bei den übrigen Werken Schurze’s: Ver-
Jindung des Geltenden mit der Vergangenheit, Ableitung des Juristisch-
Dogmatischen aus dem Historisch-Genetischen.
Es ist sicherlich gerade vom didactischen Standpunkte aus wich-
tig, die Idee kräftig zu fördern, dass die gegebenen staatlichen Insti-
sutionen nicht „aus der Pistole geschossen“ sind, sondern der ge-
sammten Vergangenheit eines Volkes ihr Dasein verdanken, und sicher-
lieh ist gründliches Verständniss der Gegenwart nur möglich, wenn
man ihr Entstehen und Werden kennt. Ein Lehrbuch des Staats-
rechts ist daher nicht vollkommen, wenn es die historischen Voraus-
setzungen des Gegebenen ignorirt. Der rechtliche Gehalt vieler publi-
cistischer Institute wird erst verständlich, wenn man die verschiedenen
Phasen kennt, die sie erlebt haben.
Die historische Methode oder vielmehr die Ergänzung der Rechts-
dogmatik durch die Rechtsgeschichte hat aber gewisse in der Natur
derselben gelegene Schranken; nicht alle Geschichte ist eben Rechts-
geschichte. Nur soweit eine ununterbrochene Entwicklung oder min-
destens Einwirkung vergangener Rechtsbildungen auf gegenwärtige sich
nachweisen lässt, hat die Rechtsgeschichte ihre unbestrittene Domäne.
Aber nicht jede historische Folge von juristischen Schöpfungen be-
deutet auch eine dogmatische Entwicklung.
Das gilt nun namentlich für das neue Deutsche Reich und seine
Geschichte. Das neue Reich ist eine völlige Neuschöpfung; mit aller
Klarheit liegt der gewaltige Process vor uns, durch welchen der
deutsche nationale Staat in unseren Tagen gegründet wurde. Zwischen
ihm und dem heiligen römischen Reiche liegt eine derartige Kluft,
dass der neue Staat geradezu als das Widerspiel des alten bezeichnet
werden kann. Wenn irgendwo, so haben die Gründer des Reichs aus
der Geschichte Deutschlands die Lehre gezogen, wie die Institutionen
eines Staates rechtlich nicht geartet sein dürfen, um lebenskräftig
einer Nation Gestalt zu verleihen. Und wenn auch historische Re-
miniscenzen mitgewirkt haben bei dem Aufbau des neuen Reiches,
so ist doch ein eausaler Zusammenhang zwischen der juristischen
Structur des alten und des neuen Reiches nicht vorhanden. Wenn
daher Schurze „die geschichtlichen Fäden des heutigen Reichsstaats-