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Dann aber muss auch jede kirchliche Satzung für sich fähig sein,
Recht zu sein, selbst dann, wenn sie dem Willen der staatlichen
Satzung widerspricht. Ob sie es im letzteren Falle wirklich wird,
hängt lediglich davon ab, ob und inwieweit die Kirche im Stande
ist, mit ihrer Macht über ihre Angehörigen ihre Satzung thatsäch-
lich aufrecht zu erhalten und durchzusetzen. Soweit sie das nicht will
oder der Staat es ihr unmöglich macht, ist allerdings ihre Satzung
nicht Recht; denn Recht ist nicht bloss der Ausspruch über das, was
sein soll, sondern auch die Macht, es zu verwirklichen.
In der Art, wie diese Frage sich entscheidet, zeigt sich aber
noch ein grosser Unterschied zwischen dem Verhältniss des kirchlichen
Rechtes und dem der Gliedstaaten. Gegenüber einem widersprechen-
den Rechte der Gliedstaaten ist doch wenigstens verfassungsmässig
das Mittel zur Lösung vorgesehen, welches schliesslich durch eine
Kraftanstrengung des Reiches in Bewegung gesetzt werden könnte,
um die Sache ordnungsmässig zu erledigen. Zwischen dem Rechte der
Kirche und dem des Staates besteht kein derartig geordnetes Ver-
hältniss, zwischen ihnen entscheidet lediglich die unvermittelte that-
sächliche Macht. Darum ist es wohl auch nicht richtig, hier über-
haupt noch von Autonomie zu sprechen.
Wenn man vergleichen will, so mag man eher an die Üonflicte
denken, welche uns so massenhaft dargeboten werden von dem so-
genannten internationalen Privatrecht. Das Pr. L.R. behandelt z. B.
einen in Preussen wohnenden Franzosen, was seine persönliche Hand-
lungsfähigkeit anlangt, nach preussischem Recht; nach dem C. c. würde
in dem nämlichen Rechtsverhältnisse französisches Recht auf diesen
Punkt zur Anwendung kommen müssen. Welches Recht für den Fall
zum geltenden Rechte wird, hängt ganz davon ab, welche von den
beiden Mächten, welche die beiden Rechte tragen und durchführen,
den Fall thatsächlich in ihre Gewalt bekommt, d.h. in der Lage ist,
ihre Urtheile und Zwangsvollstreckungen darauf zur Anwendung zu
bringen. Die Machtfrage ist entscheidend. Ein solches fremdes
Recht ist für unseren Staat auch das kirchliche, nur dass die Macht-
grenze hier nicht zusammenfällt mit der Landesgrenze, sondern schwer
erkennbar und schwankend sich hinzieht durch die Lebensbeziehungen
der Unterthanen des Staates selbst.
Nach all dem können wir das Axiom des Verfassers nicht unter-
schreiben, dass das Recht begrifflich alle ungelösten d.h. erst durch
die Machtfrage zu lösenden Gegensätze ausschliesse; denn was die