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Hoheitsrechte der andern Staaten einfach auszuwischen. Man
war durch die politischen Verhältnisse zu einer grösseren Fein-
heit, zu einer viel künstlicheren Gestaltung genöthigt. Man musste
einen Weg einschlagen, bei welchem den militärischen Be-
dürfnissen Genüge geschah und zugleich die staatsrechtliche
oder politische Stellung und Würde der verbündeten Staaten
geschont wurde, mit andern Worten: man musste Beides ver-
einigen, was scheinbar unvereinbar ist, die militärische Einheit des
(Granzen und die Militärhoheit der Einzelstaaten über die Theile.
Es war nicht freier Wille, nicht Laune, nicht Zaghaftigkeit, nicht
sentimentale Rücksicht auf das Geschichtlich-Gewordene, sondern
es war die Noth, die ausserordentliche Ungunst der politischen
Verhältnisse, welche diesen Weg wies. Die fein ausgedachte,
geniale, den thatsächlichen Verhältnissen entsprechende Art, wie
dieses Problem gelöst worden ist, macht die deutsche Heeresver-
fassung zu einer Art von juristischem Kunstwerk; es bereitet dem-
Jenigen, der dafür Sinn hat, ein ästhetisches Vergnügen zu erkennen,
wie der Gegensatz der technisch-militärischen Erfordernisse und
der staatsrechtlich-politischen Ansprüche durchgeführt worden ist,
gleichsam wie zwei Motive, die miteinander zu einer höheren
Einheit harmonisch verbunden sind, ohne dass ihre Antithese
verschwindet.
Man rühmt so sehr, und gewiss mit Recht, den Nutzen ge-
schichtlicher Untersuchungen für das Verständniss der Rechtsin-
stitutionen. Aber nicht der Luxus mit Citaten, welche sich auf
entlegene Jahrhunderte beziehen, ist von Werth, sondern die Er-
kenntniss ‘derjenigen geschichtlichen Verhältnisse, in denen die
Wurzeln des heutigen Rechtszustandes liegen. Für die wissen-
schaftliche Aufklärung der Heeresverfassung des deutschen
Reichs scheint man die Verwerthung dieses Erkenntnissmittels zu
verschmähen; die geschichtliche Betrachtung der Staatsrechts-
Schrifsteller begnügt sich mit der Constatirung der das patrio-
tische Empfinden befriedigenden Thatsache, dass der frühere Zu-
stand schlecht gewesen ist „und wie wir’s dann zuletzt so herr-
lich weit gebracht.“ Für das juristische Verständniss wirft
diese Erkenntniss keine Früchte ab.