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In der Hauptverhandlung erhob der Vertheidiger der Angeklagten den
Einwand der Unzulässigkeit des Verfahrens und beantragte Einstellung des-
selben, weil nicht innerhalb der im $ 61 des Reichsstrafgesetzbuches be-
zeichneten Frist von drei Monaten von dem Russischen Prokurator d. h.
von der Russischen Strafverfolgungsbehörde ein Antrag auf Bestrafung der
Angeklagten gestellt wäre. Der Gerichtshof wies den erhobenen Einwand
der Angeklagten und den daran geknüpften Antrag, das Verfahren einzu-
stellen, als unbegründet zurück, weil der im $ 4 Nr. 3 Abs. 2 des Reichs-
strafgesetzbuches bezeichnete Antrag von dem in den 88 61 ff. dieses
Gesetzes behandelten Antrage ganz verschieden wäre, so dass die dort
gegebenen Grundsätze auf ihn keine Anwendung finden könnten.
Diese Auffassung!) ist in der Literatur nicht unbestritten; während
nämlich ÖLSHAUSEN?) und ScHüTzE?®) derselben beitreten, ist OPPENHOFF'*)
gerade der entgegengesetzten Ansicht, indem er für den Antrag im $ 4
Nr. 3 Abs. 2 R.-St.-G.-B. ausdrücklich die Vorschriften der 88 61ff. für
massgebend erklärt.
Um beurtheilen zu können, nach welchen Grundsätzen der fragliche
Antrag zu behandeln ist, erscheint ein Eingehen auf die Entstehungs-
geschichte des Abs. 2 Nr. 3 $ 4 St.-G.-B. von erheblichster Bedeutung.
Die Grundsätze des Reichsstrafgesetzbuches in Bezug auf die Behand-
lung des sog. internationalen Strafrechts sind im Wesentlichen dieselben,
wie im Preussischen Strafgesetzbuch vom 14. April 1851. Auch im Reichs-
strafgesetzbuch findet sich eine Verbindung des Territorialitätsprinzips mit
dem Personalitätsprinzipe, auch hier ist insbesondere ferner die Verfolgung
und Bestrafung der im Auslande begangenen Verbrechen und Vergehen
nicht in der Weise obligatorisch gemacht, wie die Verfolgung der im Inlande
begangenen strafbaren Handlungen.
Was speziell den $ 4 des Reichsstrafgesetzbuches anlangt, so war der-
selbe in dem ersten Entwurfe vom Juli 1869 dem 8 4 des Preussischen
Strafgesetzbuches völlig analog gefasst. Dagegen finden sich bereits in dem
zweiten, dem Reichstage vorgelegten Entwurfe verschiedene Abweichungen.
Abgesehen von der Veränderung durch Neubildung der besonderen 88 5
1) Dieselbe ist auch ausgesprochen in einer ausführlichen Verfügung
des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten d. d. Berlin, den 10. Januar
1887, sowie in dem Urtheile des Reichsgerichts in der Strafsache gegen K.
vom 30. September 1887, D. 1826/87 („Rechtsprechung des Reichsgerichts,
Bd. IX, S. 481 fi.*).
2) Commentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin
1880, Bd. I S. 65 Anm. 11.
®) Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 170, Anm. 12 zu $ 50. —
Auch Bmpme (Die Normen und ihre Uebertretungen, Bd. I, Leipzig 1872)
scheint dieser Ansicht zu sein, indem er auf S. 131 den $ 4 Nr. 3 Abs. 2
noch besonders neben den Antragsverbrechen erwähnt.
*) Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 10. Ausgabe, S. 35,
Anm. 32 zu $ 4.