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Der Grund, weshalb in solchen Fällen eine strafrechtliche Verfölgung
zugelassen worden ist, liegt darin, dass eine Auslieferung solcher Aus-
länder, welche die Reichsangehörigkeit erworben haben, nicht meh zu-
lässig ist. ($ 9 des Reichsstrafgesetzbuchs.) „Ich kann mir“, so sagt u. A.
ein Genosse von FrIES, der Abgeordnete BECKER, „den ganzen Zusatz gar
nicht anders erklären, als dass er motivirt worden ist durch’die Ausschliess-
lichkeit des schönen Prinzips im Artikel 9: Wir wollen keinen Deutschen
ausliefern! Darum, weil wir ihn nicht ausliefern wollen, wollen wir ihn auch
für die Vergangenheit unserer Strafgewalt unterwerfen“ !°).
Es ist dadurch der der ganzen Nr. 3 des $ 4 zu Grunde liegende und
aus derselben in Verbindung mit 8 9 des Reichsstrafgesetzbuches sich
ergebende gesetzgeberische Grundgedanke weiter ausgeführt, dass eine Ver-
folgung und „Bestrafung der Inländer im Inlande wegen der im Auslande an
Ausländern verübten Verbrechen oder Vergehen entgegen dem Territoriali-
tätsprinzipe aus politischen Gründen zugelassen werden soll, weil die moder-
nen Kulturstaaten als Glieder eines grossen Staatssystems ein gemeinsames
Interesse an der gegenseitigen Unterstützung der Strafgewalt behufs Er-
haltung der Rechtsordnung haben, und nur dann ein vernunftgemässes
Nebeneinanderbestehen der Staaten möglich ist, wenn das Inland sich nicht
zum Asyl für Inländer macht, welche im Auslande Verbrechen begehen“ 1).
In jener Sitzung vom 2. März 1870 hat der Reichstag aber ferner auf
Grund des weiteren Abänderungsantrages der Abgeordneten FRrIEs und
Genossen dem Zusatze:
„Die Verfolgung ist auch zulässig, wenn der Thäter bei Be-
gehung der Handlung noch nicht Norddeutscher war“,
noch den weiteren Nachsatz hinzugefügt:
„In diesem Falle bedarf es jedoch eines Antrages der
zuständigenBehörde des Landes, in welchem die straf-
bare Handlung begangen worden, und das ausländische
Gesetz ist anzuwenden, soweit dieses milder ist“ 12).
Wie sich aus der Verhandlung selbst ergiebt!?), ist das Erforderniss
eines Antrags der ausländischen Behörde im Reichstage hinzugefügt worden,
nicht zuwider gehandelt hat, so dass nicht nur den deutschen Strafgesetzen,
sondern auch den deutschen Normen rückwirkende Kraft beigelegt wird.“
Dass diese Furcht eine unbegründete, der neue Zusatz ein folgerichtiger und
unbedenklicher, dürfte sich aus den nachfolgenden Erörterungen ergeben.
10) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages
des Norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd.I S. 164.
11) So das oben citirte Urtheil des Reichsgerichts vom 30. September
1887, S. 482 a. E.
12) Durch die Annahme dieses Nachsatzes sind auch die Bedenken,
welche v. Bar in Goltdammer’s Archiv Bd. XVII S. 88 u. 89 gegen die
ursprüngliche Fassung des Zusatzes erhebt, beseitigt worden.
') Vgl. die oben näher bezeichneten Reichstagsberichte 8. 157 ff.