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neue Versuch wird aber bei einer ernstlichen Befolgung des aufgestellten
Programmes auf den Erfolg zählen können, der ähnlichen Schöpfungen
auf anderen Gebieten längst zu Theil geworden ist. Was soll in solchen
Lehrbüchern geboten werden? Eine auf eine Concentration der geistigen
Kräfte des Lesers abzielende concentrirte Darstellung der das Gesammt-
bild, das Gefüge unserer Lehre ausmachenden Rechtsbegriffe und befestig-
ten Rechtsinstitute. Das ist desshalb kein kleines wissenschaftliches Ver-
dienst, weil es zweifellos grössere gibt; es kommt dabei eben nicht der
Forscher, sondern die im akademischen Beruf allerdings nicht immer aus-
reichend berücksichtigte Lehrthätigkeit zum Wort. Das Princip derselben:
Beschränkung auf das Wesentliche und Heraushebung desselben aus dem ab-
lenkenden Beiwerk, — sehen wir an keinem Punkte der vorliegenden Dar-
stellung in wünschenswerther Weise verwirklicht. Sie bietet zu viel Neben-
sächliches; um dem an dieser Stelle ganz unbegründeten eventuellen Vor-
wurfe zu begegnen, dem Verf. sei irgend etwas entgangen, wird im Sturm alles
gestreift. Ein solcher „Vorwurf“ muss den Bearbeiter eines Lehrbuches für
Studierende völlig kühl lassen. Am störendsten machen sich diese sicherlich
mit einem grossen Aufwand von Mühe und Arbeit geschaffenen endlosen „Avis
au lecteur“ in den grundlegenden Theilen fühlbar, nämlich in der geschicht-
lichen Einführung und im 1. Buche in der allg. Einleitung in das öffentliche
Recht Deutschlands. Diese Theile machen den Eindruck eines Stenogramms
mit endlosen Lücken und „Kammersiglen*, die eben nur der Schreibende
selbst auszufüllen oder zu lesen vermag. Jeder Andere und vor Allem der
Studierende steht rathlos vor den krausen Linien. Ueber die Tendenz der
geschichtlichen Darstellung wollen wir mit dem Verf. nicht streiten, er hat
ein Recht auf die seinige, wie andere auf eine andere; aber sie darf nicht
so in den Vordergrund treten, dass stellenweise dem Leser nur Tendenz
und — gar keine Geschichte mehr geboten wird. Der Studierende, dem die
Zeit vor Auflösung des Reiches als die der „ehrwürdigen alten Ordnung“
(S. 85); die Zeit nach den Freiheitskriegen als die des „Völkerfrühlings“
(S. 41); METTERNICH nur als „Gegner jeder liberalen Regung“ bezeichnet
wird, der „auf die Selbstsucht und Eitelkeit der kleinen Fürsten baute, um
im Trüben das habsburgische dynastische Interesse zu fördern“ (S. 42); der
Studierende, dem die Nationalversammlung in der Paulskirche im Geiste der
Tagespublicistik dadurch ausreichend gekennzeichnet wird, dass in derselben
„zwar über 500 beste Kräfte, aber darunter über 100 Professoren und Litte-
raten sassen*, — dem aber an anderer Stelle nicht im Einzelnen genau gesagt
wird, welche territorialen Veränderungen das Jahr 1866 im Gefolge hatte, —
ein rechtsgeschichtlich so geschulter Jurist ist für seinen künftigen Beruf
weniger vorbereitet als derjenige, dessen rechtshistorisches Pensum bloss
durch die auf S. 23 gegebenen tabellarischen Hauptdaten der deutschen
Staatsgeschichte umschrieben ist. Erscheinen uns die bisher erwähnten Theile
verfehlt, so müssen wir doch anerkennen, dass in den folgenden drei Büchern
(I. Die Grundlagen des öffentlichen Rechts; II. Die Organisation des Staates
[Verfassungsrecht]; III. Die Funktionen des Staates [Regierungsrecht]) zahl-
reiche für den Studierenden lehrreiche Fingerzeige und orientirende Dar-
stellungen enthalten sind. Darin, dass Verf. stellenweise dem geringern Ver-
ständniss seines Lesers durch Ausführungen über den Zweck, Nutzen, funk-
tionellen Werth des behandelten Instituts entgegenkommt, kann ich nicht