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(S. 87). Hier ist sofort klar, dass die nordamerikanische Union trotz ihrer
„Trennung“ von Staat und Kirche, dennoch das Christenthum und die christ-
liche Moral als die unentbehrliche Grundlage auch des Rechts und der
öffentlichen Einrichtungen voraussetzt.
Wir kommen damit zu der interessantesten Partie des Buchs. Der
Verfasser entwickelt auf S. 53 ff., dass mit der Trennung von Staat und
Kirche doch keine Trennung der „Nation vom Christenthum* gegeben ist.
Das Christenthum bildet „einen Theil des common law“, wie in England so
auch in den Vereinigten Staaten, und Gotteslästerung ist daher ein Ver-
brechen (S. 60); der Eid bildet eine Grundlage der öffentlichen Einrichtungen
(S. 62), der Präsident der Vereinigten Staaten ordnet Bettage, Fasttage,
Danksagungstage an (S. 63); Kircheneigenthum ist in fast allen Staaten
steuerfrei (S. 66); die Vereinigten Staaten bestellen als solche Geistliche
(„Kapläne“) für den Kongress, für die Armee, für die Marine, für Kriegs-
und Marineschulen (S. 67). Der Congress unterstützt namentlich die Ver-
breitung der protestantischen Bibelübersetzung (S. 68); Polygamie ist ver-
boten (S. 69); es giebt Sonntagsgesetze (S. 69 ff.) und Religionsunterricht in
öffentlichen Schulen (S. 73 ff.). Dies sind die Punkte, welche von der „libe-
ralen Liga“ bereits angegriffen worden sind (S. 43), um eine völlige Säcula-
risirung und zugleich, wie man sagen darf, Atheisirung des öffentlichen Lebens
durchzuführen.
Man sieht, auch die nordamerikanische Trennung von Staat und Kirche
hat doch vor einem gewissen Punkt Halt machen müssen. Die Religion ist
die Grundlage der Sittlichkeit, und eine völlige Trennung des Staates von
Staat und Kirche darum, wie der Verfasser selber (S. 44) sagt, ein Ding der
Unmöglichkeit,
Das Leben ist mächtiger als alle Theorie, und wie in Amerika, trotz
der „Trennung“ von Staat und Kirche, doch noch ein sehr bedeutendes Mass
von Verbindung (im Widerspruch mit dem Grundsatz von der „freien
Kirche im freien Staat“) existirt, so wird das in Europa noch geltende „Dul-
dungssystem“ mit dem Gegensatz von privilegirten Kirchen und zurück-
gesetzten Secten trotz aller theoretischen Einwände doch bei uns, und mit
Recht, lebenskräftig fortbestehen, so lange das religiöse Leben der Nation
thatsächlich noch nicht, wie in Amerika, in zahllose „Denominationen“ auf-
gelöst ist, sondern in grossen, mächtigen, vielhundertjährigen compacten
Kirchenkörpern seinen Ausdruck findet.
Der Verfasser tritt seinerseits mit grosser Wärme für das amerikanische
System ein, welches ihm (theoretisch nicht ohne Grund) als das System der
„religiösen Freiheit“ erscheint, und mit gerechtem Stolz weist er auf die
Kraft des in den Vereinigten Staaten blühenden kirchlichen Lebens hin,
durch dessen Energie Europa vielfach beschämt wird (S. 78 ff.). Ein Schluss-
abschnitt (S. 83 ff.) handelt von der „religiösen Freiheit im modernen
Europa“, d.h. von der neuesten Entwickelung, sofern sie auch in europäischen