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antwortung zu ziehen, muss aber weiter gefolgert werden, dass es
auch unstatthaft ist, einen Abgeordneten wegen einer in Aus-
übung seines Berufes gethanenen Aeusserung zeugeneidlich zu
vernehmen ?.. Die Vorladung eines Abgeordneten unter An-
drohung der Strafen des Zeugnisszwanges zur eidlichen Auskunfts-
ertheilung über Thatsachen, welche er im Reichstage in Ausübung
seines Berufs vorgebracht hat, seine demnächstige Vernehmung
unter Androhung der Strafen des Meineides stellt sich als eine
Zurverantwortungziehung im Sinne des Gesetzes dar, und es bedarf
gar nicht des Hinweises auf ausländische Verfassungen, deren
Bestimmungen für die Formulirung des Artikels 30 massgebend
waren, es bedarf insbesondere nicht des Hinweises auf die weiter
unten zu betrachtenden Verfassungen Belgiens und Englands, um
zu dem Resultate zu gelangen, dass es, mag auch der Wortlaut
des Art. 30 vielleicht zu Zweifeln Anlass geben, dem Sinne der
Verfassung jedenfalls nicht entspricht, den Abgeordneten wegen
seiner in Ausübung seines Berufes gethanen Aewsserungen der
Zeugnisspflicht zu unterwerfen. Nimmt man an, dass unter dem
Zurverantwortungziehen, von welchem die Verfassung ganz generell
spricht, nachdem sie zwei spezielle Arten der Zurverantwortung-
ziehung, die gerichtliche und disciplinarische Verfolgung bereits
hervorgehoben hat, die Vernehmung des Abgeordneten als Zeugen
verstanden wird, so ist die Auslegung des Gesetzes einfach, und
es ist nicht nothwendig, wie bei Festhaltung der entgegengesetzten
Ansicht, der Gesetzesredaktion einen Pleonasmus und eine Tauto-
logie zur Last zu legen; dass die Thätigkeit des Reichstags-
abgeordneten, insbesondere seine Kritik an den Handlungen der
Verwaltung ungemein erschwert würde, wenn die Möglichkeit be-
stände, jeden Theil seiner beruflichen Aeusserungen zum Gegen-
stand einer zeugeneidlichen Vernehmung zu machen, liegt auf der
*) FuLp, Die Zeugnissverweigerung der Reichstagsmitglieder, Annalen
des deutschen Reichs, 1888, S.6. Anderer Ansicht Bmpme, a. a. O. S. 676,
Anm. 73; ebenso Lasann; LEwALD, Steht den Mitgliedern des Reichstags
wegen der in Ausübung ihres Berufes gethanen Aeusserung ein Recht zur
Zeugnissverweigerung zu? Gerichtssaal Bd. 89, S. 54—70; MiıTTELsTÄnr in
den Preuss. Jahrbüchern Bd. 57, S. 557—573;, ferner die anonyme Darstel-
Jung in den „Grenzboten“ Bd. 45, S. 618—621,