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kann der staatsrechtlichen Beschränkung des Repräsentanten die
rechtliche Bedeutung nach aussen fehlen, und so scheint ins-
besondere nach englischem Staatsrecht dem Erforderniss des
(freien) parlamentarischen Consenses zur Ausführung der materiell
in das Gebiet der Gesetzgebung einschlagenden Verträge eine
völkerrechtliche Wirkung nicht zuzukommen !?°®). Endlich liegt
die Möglichkeit vor, dass die Volksvertretung rechtlich ver-
pflichtet ist, ihre Zustimmung zur gesetzgeberischen Ausführung
eines ohne ihre Ooncurrenz gültig abgeschlossenen Staatsvertrages
zu ertheilen; und in der That sprechen starke Gründe für eine
solche Interpretation der nordamerikanischen Unionsverfassung in
Betreff der Stellung des Repräsentantenhauses zu den vom Prä-
sidenten unter verfassungsmässiger Zustimmung des Senats ge-
schlossenen Staatsverträgen !°°).
Für die constitutionellen Staaten, in denen über die Rechte
auf die Zustimmung der Volksvertretung hinzuwirken, etwa durch Modifika-
tionen des Ausführungsgesetzes — falls nicht der Vertrag als Ganzes der
parlamentarischen Beschlussfassung unterliegt —, oder durch anderweitige
Kompensationen (vgl. Gneist bei E. MEIER, S. 345), oder durch Auflösung
der Wahlkammer. Hierin vor allem zeigt sich ein wichtiger praktischer
Unterschied gegenüber dem System, welches die Gültigkeit des Vertrags
von der Zustimmung der Volksvertretung abhängig macht.
122) Mit voller Sicherheit lässt sich diese Frage für England kaum be-
antworten, weil seit dem Utrechter Frieden der Fall, dass das Parlament
seine Zustimmung zur Ausführung einer vertragsmässigen Festsetzung ver-
weigerte, nicht vorgekommen ist.
180) Für diese, bei den nordamerikanischen Theoretikern und Staats-
männern vorherrschende Auslegung wird gewöhnlich das Hauptgewicht auf
die Bestimmung der Unionsverfassung (Art. VI, $ 2) gelegt, dass die unter
der Autorität der Vereinigten Staaten geschlossenen Staatsverträge höchstes
Landesgesetz sein sollen. Wenn aber auch dieser Satz sicb wenigstens zu-
nächst nur auf das Verhältniss zu dem Verfassungs- und Gesetzesrecht der
Einzelstaaten bezieht (E. MıEr, 1. c. S.199 ff.), so dürfte doch die Annahme
sehr nahe liegen, dass durch das Erforderniss der Zustimmung einer Zwei-
drittelmehrheit des Senats eine materielle Cognition des Repräsentanten-
hauses überflüssig gemacht und demgemäss ausgeschlossen werden sollte.
Ueber die ganze Streitfrage vgl. E. MEıEr, S. 163—211, welcher freilich mit
Entschiedenheit die gegentheilige Auffassung vertritt.