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— ohne ausdrückliche Bestimmung des Gegentheils — nach aussen,
also insbesondere gegenüber den anderen an dem Gresetzgebungs-
prozess betheiligten Organen sowie für den Richter, keine bindende
Geltung in Anspruch nehmen ?%). Ueberhaupt dürfte — entgegen
der vorherrschenden Ansicht ?2°!) — die Annahme begründet sein,
dass der Richter, wenn ein Gesetz in Frage steht, durch welches
direkt oder indirekt die Verfassungsurkunde abgeändert wird,
immer, abgesehen von einem entgegenstehenden ausdrücklichen
Verbot, berechtigt und verpflichtet ist, im Falle eines erheblichen
Zwweifels selbstständig zu prüfen, ob die besonderen Formen der
Abänderung, welche für die Beständigkeit der obersten Normen
der staatlichen Rechtsordnung Gewähr bieten sollen, inne gehalten
worden sind ?%).
in Bezug auf den deutschen Bundesrath aus Anlass des Art. 78, Abs. 1 der
deutschen Reichsverfassung beschäftigt und dieselbe überwiegend in dem oben
bezeichneten Sinne beantwortet (s. die Citate bei @. MEYER |]. c. S. 473,
Anm. 8). Uebereinstimmend auch v. Sarwey |. c. II, S. 220, welcher in
Anm. 9 Belege aus der Praxis der württembergischen Abgeordnetenkammer
beibringt.
00) So insbes. auch HäÄnEL, Studien I, S. 259 ff.
20!) Den von & Meyer 1. c. S. 509, Anm. 7, genannten deutschen
Juristen, welche sich für das Recht der Gerichte, die sog. materielle Ver-
fassungsmässigkeit von Gesetzen zu prüfen, ausgesprochen haben (R. v. MouHL,
G. PLanck, v. RönNE), sind aber insbes. Hänet (l. c. S. 262 ff.) und E. MrıEr
(v, Holtzendorff’s Rechtslexikon, 3. Aufl., IH, S. 226) hinzuzufügen. Letzterer
fragt treffend die Gegner: „Soll der Richter auf cine in einem gewöhnlichen
Gesetze vorgeschriebene Strafe erkennen dürfen, obgleich die Verfassung
diese Strafe verboten hat?“
2022) De lege ferenda hebt auch JELLINEK (S. 405—406) hervor, dass die
Frage, ob nicht für die formelle Verfassungsmässigkeit der Gesetze und
insbes. auch für die Beobachtung der erschwerenden Formen der Verfassungs-
änderung stärkere Garantieen als bisher erforderlich seien, wohl erwogen
werden sollte; selbst gegen ausdrückliche Einräumung eines „Ueberprüfungs-
rechtes der Ausfertigung der Gesetze“ verhält er sich nicht principiell ab-
lehnend. Andererseits verkenne ich nicht, dass es zur Vermeidung „der
Nachtheile, welche ein zu weit gehendes Prüfungsrecht ohne Zweifel mit sich
bringen kann“, wünschenswerth wäre, die Prüfung der Rechtsgültigkeit von
Gesetzen ausschliesslich einem obersten Gerichtshofe zuzuweisen.