9 —
„Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch
den König und beide Kammern ausgeübt, die Uebereinstim-
mung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetz
erforderlich“,
bedeutet einen Umschwung der staatsrechtlichen Anschauung.
Aus der „Beihülfe und Zustimmung“ der Stände ist etwas An-
deres geworden. Das Parlament hat sich zum Mitfactor der
gesetzgebenden Gewalt erhoben; und zwar sind König und Par-
lament gleichwerthige Factoren. Dieses stellt nicht nur den
Gesetzesinhalt fest, sondern erklärt durch seine Abstimmung zu-
gleich den Willen, dass dieser Gesetzentwurf im Fall der Bei-
stimmung des Königs als Gesetzesbefehl verbinden solle. Nicht ein
„wissenschaftliches Axiom“ ist Gegenstand der Debatten im
preussischen Landtag, sondern ein schon als Rechtsbefehl formu-
lirter Gesetzentwurf. Die Beschlussfassung des Monarchen ıst
ihrem Wesen nach genau dasselbe, wie die Mitwirkung und Be-
schlussfassung des Landtags. So war auch die herrschende Lehre
bis in die neuere Zeit, cfr. GROTEFEND, Staatsrecht S. 634,
BtuntschLi, 5. Aufl. des Allgem. Staatsrechts S. 132, Mont,
Staatsrecht, Völkerrecht, Politik, II S. 476. Das zu Stande
gekommene Gesetz entnimmt seine verpflichtende Kraft als Rechts-
befehl nicht etwa einer sanctio legis des Monarchen, sondern der
Thatsache, dass die beiden gesetzgebenden Factoren des König-
reiches ihre Zustimmung dazu ertheilt haben, dass dieser Rechts-
satz oder Complex von Rechtssätzen als Gesetz verkündet werde.
Mit dem Augenblick des Consenses der Kammern und des Königs
ist nicht nur ein theoretischer Satz festgestellt, der erst durch
den Act der sanctio legis zum Gesetz erhoben würde, sondern
in jenem Augenblick ist das Gesetz geschaffen, welches den Ge-
setzesbefehl nothwendig in sich trägt.
Allerdings, ein Gesetz im vollendeten Sinn liegt noch nicht
vor: denn die allgemein verbindliche Kraft tritt erst mit der
Publication ein. Aber verbindliche Kraft kommt ihm doch schon