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Es sind in demselben zwei Stadien zu unterscheiden: Das
erste ist die Uebereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundes-
raths und Reichstags, das zweite die Verkündigung des Gesetzes.
Die letztere schafft das Gesetz im eigentlichen Sinn des
Wortes, als den Jedermann, mit Einschluss der Gesetzgebungs-
factoren, verpflichtenden Rechtsbefehl. Jene, die Uebereinstim-
mung von Bundesrath und Reichstag, schafft das Gesetz im Sinn
des Art. 5, Abs. 1, d. h. als ein noch nicht Jedermann ver-
pflichtender Rechtsbefehl. Allein irrelevant hinsichtlich der ver-
pflichtenden Kraft ist dieses Moment doch nicht; staatsrechtliche
Bedeutung kommt auch ihm schon zu, und zwar eine doppelte:
1) Das Moment, wo die Uebereinstimmung zwischen Bundes-
rath und Reichstag vorliegt, bindet diese beiden Körperschaften
insofern, als keine von ihnen das gegebene Votum zu revociren
im Stande ist, und
2) es verpflichtet den Kaiser zur Ausfertigung und Publi-
cation des (Gesetzes.
Der Beweis zu 1) liegt im ersten Absatz des Art. 5, vor
Allem in dem Worte „ausreichend“. Der Beweis zu 2) ist zum
grössten Theil geführt. Er stützt sich auf die oben gegebene
Interpretation der Worte „Gesetzgebung“ und „Gesetzgeber“,
sowie auf die folgende Erwägung. Wäre der Kaiser frei, könnte
er die Publication beliebig verweigern, hätte er mit anderen
Worten das Veto, so müsste der Art. 5 unzweifelhaft lauten:
Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Kaiser, den
Bundesrath und Reichstag. Das Uebergehen des Kaisers in
Art. 5 in Verbindung mit der Thatsache, der er im 2. Abschnitt
der Verfassungsurkunde, welcher speciell der Gesetzgebung ge-
widmet ist, gar keine Erwähnung gefunden hat, dass vielmehr die
ihm in Bezug auf die Reichsgesetzgebung zustehenden Handlungen
erst in Art. 17 erwähnt werden, macht den Schluss unvermeid-
lich, dass der Kaiser der freien und unabhängigen Theilnahme an
der Gesetzgebung, mithin des Vetos entbehre.