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Vielmehr tritt jenes Specialgesetz einfach neben die Verfassung,
als Ausnahme von der Regel, welche als solche fortbesteht.
Dieser Lehre steht die andere, mehr auf politische Momente
Rücksicht nehmende, gegenüber, nach welcher es in jedem solchen
Falle zuvor einer Aenderung des diesbezüglichen Wortlauts der
Verfassungsurkunde bedürfte.
Auch hier liegt die Wahrheit in der Mitte. In den bei
weitem häufigsten Fällen wird allerdings die zuerst genannte, ins-
besondere von LABAND vertretene Ansicht zutreffen, dass es ledig-
lich des verfassungsmässigen Zustandekommens des Gesetzes und
keiner hiermit parallel gehenden Aenderung des Verfassungswort-
lautes bedürfe, um einen der Verfassungsurkunde nicht entsprechen-
den Gesetzesinhalt zum Gesetz zu erheben. Allein es ist dies
keine ausnahmslose Regel. Ich recurrire hier auf das oben an-
gezogene Beispiel, dass man die Bestimmung des Art. 78, Abs. 1
in der von LABAND vorgezeichneten Art und Weise für den Ein-
zelfall ausser Kraft setzen wollte, indem man übereinkommt, ein-
mal trotz des Widerspruchs von 15 Bundesrathsstimmen ein
verfassungsänderndes Gesetz zu Stande zu bringen. Sicherlich
würde Niemand ein solches Vorgehen billigen können.
Von diesem Einzelfall ist die folgende Regel zu abstrahiren:
Man hat zwei Kategorien von Verfassungsbestimmungen von
einander zu sondern. Die eine Kategorie bilden diejenigen Be-
stimmungen, welche, wie z. B. Art. 78 und Art. 5 die Bedin-
gungen aufstellen, unter welchen der Wille der gesetzgebenden
Factoren überhaupt erst zur Erscheinung kommt, überhaupt erst
Wirksamkeit erlangt. Die zweite Kategorie bilden alle übrigen
Sätze der Verfassung.
Diese Unterscheidung im Auge behaltend meine ich, dass es
bei der zuletzt erwähnten Klasse mit der LABAnn’schen Regel
sein Bewenden findet. Denn wofern der reichsgesetzgeberische
Wille auf dem verfassungsmässigen Wege wirksam in die Er-
scheinung getreten ist, bedeutet er eine selbständige Potenz; sein