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sie nicht für den Krieg, der bedeutsamsten und eigenthümlichsten
Erscheinung des Völkerverkehrs, eine scharf und bestimmt präci-
sirte Stellung in ihrem Systeme gewonnen. Die Neutralisation
steht aber im engsten, unauflöslichen Zusammenhang mit dem
Kriegsbegriff; ihr Inhalt steht und fällt mit dem Inhalte dieses
Begriffes. Die Theorie des Völkerrechts, wo sie Anspruch auf
System und Consequenz erhob, hat bisher den Krieg lediglich als
das der Völkerrechtssphäre eigenthümliche, ihn von der Privat-
rechtssphäre unterscheidende äusserste Rechts- und Processmittel
zur Wiederherstellung des gestörten Rechtszustandes zwischen
den Staaten aufgefasst (vgl. v. BULMERINCQ, „Das Völkerrecht
oder das internationale Recht“ in H. MARQUARDSEN’s Handbuch
des öffentlichen Rechts). Wenn wir nun mit Zuhilfenahme dieses
Begriffes die Neutralisation als Rechtsact interpretiren, so be-
kommen wir ein geradezu verblüffendes Resultat: Die Neutrali-
sation wäre dann nichts anderes, als die gegenseitige Verzicht-
leistung des neutralisirten und der neutralisirenden Staaten auf
das einzige Rechtsmittel im Staatenverkehr, auf den Krieg, d. h.
es wäre bei der Unvollkommenheit aller irdischen Dinge und Ver-
hältnisse nichts anderes, als die Proclamation der Willkür und
Anarchie im Verkehre des neutralisirten mit den neutralisirenden
Staaten und umgekehrt. HıLrTy muss ganz dieselbe Consequenz
zugeben, wenn er für die neutralisirte Schweiz das Ausnahmsrecht
in Anspruch nimmt, dass sie mit allen erlaubten völkerrechtlichen
Zwangsmitteln zu ihren völkerrechtlichen Pflichten angehalten
werden könne, ausser dem Kriege. Man braucht sich, wie schon
oben bemerkt, nur zu fragen: Was dann, wenn diese Zwangs-
mittel nicht ausreichen?
Es liegt nun auf der Hand, dass es unmöglich in der Ab-
sicht des vom ernstesten Rechts- und Ordnungsgefühle beseelten
Wiener Congresses oder irgend welcher Staatsmänner, die jemals
eine Neutralisation vereinbart, gelegen sein konnte, einer derartigen
Eventualität die Thore zu öffnen und sie vertragsmässig zu