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entwickeln könnte, sondern nur darnach, was er ist, und die
Wissenschaft darf, wenn anders sie ihrem Zwecke, die Thatsachen
zu erklären, gerecht werden will, sich nicht mit dem Hinweis an
den Thatsachen vorbeidrücken, dass dieselben sich mit der Zeit
ändern werden.
Die zweite Theorie, welche in dem Verhältniss Bosniens und
der Herzegowina zu ÖOesterreich-Ungarn eine neue Form der
Staatenverbindungen sieht, kommt den Anforderungen, welche
man gerechter Weise an die Wissenschaft stellen darf, jedenfalls
in höherem Masse entgegen. Aber auch hier gilt der Satz Oc-
cam’s: Eintia non sunt multiplicanda praeter necessitatem. Ehe
man sich entschliesst, eine neue Staatsform: zu statuiren, muss die
Unmöglichkeit dargethan sein, zur Erklärung der Thatsachen mit
den vorhandenen Staatsformen das wissensehaftliche Auslangen zu
finden. Es ergibt sich sonach von selbst die Pflicht, vor allem
den objectiven, den empirisch nachweisbaren Thatbestand in’s
Auge zu fassen und sodann zu untersuchen, ob hier wirklich eine
neue, von den sonstigen Staatsformen verschiedene Species aner-
kannt werden muss.
Der empirische Thatbestand zeigt nun auf dem Boden der
durch den Berliner Congress der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie zur Verwaltung übertragenen Provinzen Befehlende und
Unterworfene, Regierung und Unterthanen. Wir müssen also
zunächst fragen: Wer herrscht auf dem Gebiete von Bosnien und
der Herzegowina? Wessen Befehle sind es, welche gegenüber
den sämmtlichen Bewohnern dieser Gebiete zwingend und unwider-
stehlich zur Durchsetzung gelangen, welche durch allgemeine und
besondere Normen die Befugnisse der Unterthanen unter einander
abgrenzen, das friedliche Nebeneinanderwohnen derselben ver-
bürgen, den Unterthanen Leistungen auferlegen und die Indivi-
duen-Vielheit zu einer Einheit zusammenfassen ? Wer ist Subject
der Herrschaft in Bosnien und der Herzegowina ?
Auf diese Frage ist die Antwort nicht leicht bestreitbar.