— 602 —
gatten suchen die Motive mit nationalökonomischen Rücksichten zu recht-
fertigen; hiegegen wie überhaupt gegen die volkswirthschaftliche Tendenz
des Entwurfs, den auch hier zu Tage tretenden Individualismus erklärt
sich G. mit Entschiedenheit; er berührt sich hier mit A. Mexeer’s Kritik
des Entwurfs („Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen*),
ohne aber dessen die geschichtliche Entwicklung des Rechts missachtenden
Standpunkt zu theilen. Der von G. als „germanisch“ vertheidigte Satz,
dass jedes Recht zugleich Pflicht sei, würde freilich, als Rechtsprineip auf-
gefasst, folgerichtig zur Verneinung des Privateigenthums und damit des
Privatrechts führen, für das Privatrecht möchten wir ihn darum nicht gelten
lassen, so sehr wir auch sonst in Vielem den Vorwürfen G.’s gegen den
Individualismus des Entwurfs zustimmen. Mit vollem Recht rügt G.
wiederholt, dass der Entwurf kaum eine andere Rücksicht kennt, als die
der „Verkehrssicherheit“,;, der Rücksicht auf diese, auf den freien Verkehr,
der auf die Ausbeutung des Schwachen durch den Starken hinausläuft, wird
fast durchweg der Schutz des bestehenden Rechts und die Rücksicht auf
die Gerechtigkeit geopfert; das führt G. treffend aus in Bezug auf die
Wucherfreiheit, die Freiheit der Conventionalstrafe, den „abstrakten Vertrag“,
die Behandlung des Grundeigenthums, dessen Bestand von der Feder des
Grundbuchbeamten abhängig gemacht wird, den Schutz, den der Entwurf dem
redlichen (d. h. nicht nachweisbar unredlichen!) Erwerber gestohlenen Guts
noch über das verwerfliche Princeip des Art. 307 H.-G.-B. hinaus angedeihen
lässt, die Abneigung des Entwurfs gegen Grunddienstbarkeiten, Reallasten
und Rentenberechtigungen, nicht am wenigsten endlich in Bezug auf den
fast überall mangelhaften Schutz, den der Entwurf der redlichen Arbeit
gewährt.
Die Folgerung, die G. aus seiner Kritik des Entwurfs zieht, ergibt
sich von selbst: er anerkennt zwar, dass die Kommission, die den Entwurf
hergestellt hat, mit ausserordentlichem Fleiss und nicht minder grosser Ge-
lehrsamkeit sehr schätzbares Material zu dem auszuführenden Bau eines
nationalen Gesetzbuchs geliefert habe, aber er verwirft durchaus den von ihr
selbst konstruirten Bau. Was soll nun geschehen? Mit dieser Frage be-
fasst sich der Schlussabschnitt des Buchs. G. verlangt einen neuen Ent-
wurf, hergestellt von einer neuen Kommission, die „unter Wahrung des
Zusammenhangs mit der alten Kommission“ aus Juristen — Theoretikern und
Praktikern, Romanisten und Germanisten —, Verwaltungsbeamten, National-
ökonomen und sonstigen Laien (namentlich Reichstagsmitgliedern) zusammen-
gesetzt und deren Mitglieder alle mit gleichem Stimmrecht ausgestattet sein
sollen. Wir fürchten, dass auf diesem Weg nie zu einem befriedigenden
Gesetzbuch zu gelangen ist. Das Verlangen eines neuen Entwurfs halten wir
für begründet; will man sich zarter ausdrücken, so verlangt, man eine gründ-
liche Revision: in der Sache kommt das auf dasselbe hinaus. Wenn aber
dieses Verlangen begründet ist, dann wird man vor Allem den „Zusammen-