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Bei der Deutung zweifelhafter Erklärungen ist es in der
Regel wichtig, sich in die Seele des Betreffenden, welcher die
Erklärung abgab, zu versetzen, ihm zunächst die erste, sodann
die zweite mögliche Alternative u. s. f. zu imputiren und sich
dabei jedesmal die Frage vorzulegen: Wenn er dies meinte und
wollte, hätte er sich dann so ausgedrückt, wie geschehen ist?
Es wird nicht ausbleiben, dass eine der mehreren Alternativen
zu der vorliegenden Erklärung besser passe, als die übrigen.
Prüfen wir in unserem Fall. Ich nehme zunächst an, dass der
Reichsgesetzgeber ein Veto des Kaisers wollte. Hätte er dann
wirklich die Mehrheit des Bundesraths und Reichstags für aus-
reichend erklärt, sollte er des Kaisers unter dem Titel „Reichs-
gesetzgebung“ gar keine Erwähnung gethan haben und endlich,
hat er uns etwa zugemuthet, die Worte: Dem Kaiser steht die
Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze zu, als ein dem
Kaiser zustehendes Veto zu interpretiren? Ich nehme zum anderen
an, dass der Reichsgesetzgeber ein Veto des Kaisers nicht wollte.
Urtheile man selbst. Welche Alternative passt besser für die vor-
liegende Form, jene oder diese? Ich denke, doch ohne Zweifel
die letztere.
Der zweite Punkt ist das Wörtchen „ausreichend“ des
Art.5. Dem unbefangenen Leser kann es nicht zweifelhaft sein,
in ihm einen Gegensatz zum Kaiser zu erblicken, da dieser allein
neben Bundesrath und Reichstag in Betracht kommen kann.
FRICKER behauptet das Gegentheil. Allein seine Beweisführung
ist nicht zutreffend. Er behauptet, dass das Wort „ausreichend“
in den preussischen Grundzügen vom 10. Juni 1866, wo es schon
vorkommt, keinen Gegensatz zum Präsidium bedeute, weil ein
solches dort noch gar nicht vorgesehen sei, ebenso auch nicht in
der Zollvereinsgesetzgebung — also auch nicht ın der Reichs-
verfassung. Mit dem also beginnt der saltu mortale. Die Reichs-
verfassung will aus sich selbst erklärt werden. Es ist methodisch
unrichtig, zur Interpretation der einzelnen Worte den Text