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den Einzelnen und dass es ausser und mit der Kreuzung des Blutes
auch eine Kreuzung der sittlichen Ideen und der Erkenntniss gebe.
Manche sehen ın ihm lediglich eime der in Geldnoth be-
findlichen Regierung abgerungene Concession, ein Trug- und
Scheinwesen, welches im Ernst genommen, den Einen zu wenig,
den Anderen zu viel gewährt. Die seit Montesgieu in Mode ge-
kommene Bezugnahme auf englische Einrichtungen und die daraus
ohne gründliche Würdigung der englischen und der continentalen
Zustände entnommenen Analogien, sowie die geschichtlich wichtige
Thatsache, dass der moderne Constitutionalismus sowohl in Eng-
land als auch auf dem Continent zeitlich mit den Finanzverlegen-
heiten der Regierungen zusammenfällt, scheint zu solchen An-
schauungen zu berechtigen. Es wird sich im weiteren Verlaufe
zeigen, ob und inwieferne man aus den bezeichneten Thatsachen
auf das Wesen des Constitutionalismus schliessen darf.
Jedenfalls dürfte es aber zur richtigen Beurtheilung und
Schätzung des Constitutionalismus im Allgemeinen nöthig sein
vorerst davon abzusehen, wie er da und dort unter dem Einfluss
bestimmter Ereignisse und Persönlichkeiten sich gestaltet und
ausgebildet hat, welcher Gebrauch von ihm thatsächlich gemacht
wurde.
Je mehr Missverständnisse und Missanwendungen unter der
Aegide des Constitutionalismus nachgewiesen werden können, je
grösser die Anzahl derjenigen wäre, die mit demselben vom An-
fange nicht sympathisirten oder ihre Sympathie für ihn verloren
haben, desto wunderbarer muss es erscheinen, dass nicht nur in
Europa und Amerika, sondern auch in den übrigen Welttheilen,
selbst bei halbwilden Völkern, wohin immer unsere moderne
Cultur ihre Wellen schlägt, die Meinung entsteht, dass man ohne
constitutionelle Formen staatlich nicht existiren könne.
Diese Meinung, der sich auch die Feinde des Constitutionalis-
mus vorerst kaum zu erwehren im Stande sein dürften, eine Mei-
nung, mit der es zusammenhängt, dass man den heiligen Namen