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mus durch eine Art von politischem Glauben, durch den Grad
und das Mass der Intelligenz und durch die Auffassung der wirth-
schaftlichen Existenzfragen bedingt, diese Auffassung aber wegen
der unberechenbaren Combinationen der drei Momente eine un-
erschöpflich mannigfaltige ıst, und da nicht daran gedacht werden
kann, dass unter der Herrschaft des politischen Freiheitsprincips
diese Mannigfaltigkeit durch ein constitutionell-doctrinäres Dogma
gehoben und beseitigt werden kann, so ist es, trotz einer ge-
wissen Gleichmässigkeit der hauptsächlichsten Formen des Consti-
tutionalismus dennoch ein Irrthum, zu glauben, dass Jeder wisse,
was Constitutionalismus sel.
Viele wissen davon gar nichts und würden auf die Frage
z. B. was Volksrepräsentation, was Ministerverantwortlichkeit, was
Veto u. s. w. sei, entweder gar keine Antwort oder doch nur eine
solche geben, welche ein mehr oder minder undeutlicher Aus-
druck ihres Meinens, Wollens, Empfindens wäre. Viele aber,
denen ein gewisses Wissen nicht abgeht, müssten beim Versuche,
solche Fragen zu beantworten, wenn nicht zur Erkenntniss der
Unvollständigkeit ihres Wissens, doch zu der Ueberzeugung ge-
langen, dass Andere die Sache anders wissen.
Mag man sich nun der Einseitigkeit und insbesondere der
doctrinär-formellen Auffassung des Constitutionalismus gegenüber
noch so kalt und sceptisch, ja selbst abweisend verhalten, immer
bleibt er der historisch entwickelte Träger einer Idee, welche das
Gesammtleben unserer Culturvölker durchdringt, also die Grund-
lage des gesammten modernen Staatslebens bildet und zu ihrer
thunlichsten Verwirklichung der unseren Zuständen entsprechen-
den, natürlich auch fortbildungsfähigen Formen bedarf.
Wer unsere oben aufgestellte Idee vom Constitutionalismus
eine Utopie nennt, dem entgegnen wir, dass eine wahre Idee nie-
mals eine Utopie ist, dass wir aber durchaus nicht der Meinung
sind, es könne eine menschliche Idee an sich vollkommen und
selbst eine vollkommene menschliche Idee auch wirklich durch-