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erscheinen würde. Das Recht ist auf die normalen Fälle be-
rechnet; bei aussergewöhnlichen, nicht im Voraus in Betracht
gezogenen Verhältnissen kann sich das formelle Recht in mate-
rielles Unrecht verkehren und eine Abhülfe hiergegen ist eben in
der Gnade gegeben. Dies gilt vom Vermögensrecht ganz ebenso
wie vom Strafrecht.
Vom Standpunkt der Rechtsordnung aus ist freilich die
Gnade ein unvollkommenes und mangelhaftes Mittel der Abhülfe.
Man wird sich bemühen, das Verwaltungsrecht selbst so zu ge-
stalten, dass es sich der Verschiedenheit der thatsächlichen Ver-
hältnisse möglichst anschliesst; man wird den Rechtsvorschriften
eine gewisse Elastizität geben und in gewissem Grade den Ver-
waltungsbehörden und (Gerichten selbst die Befugniss zur Berück-
sichtigung besonderer Verhältnisse einräumen. Trotzdem wird
immer noch ein Gebiet für die Gnade übrig bleiben. Denn es
entspricht dem Wesen des Rechts, Regeln für allgemeine (ab-
strakte) Thatbestände zu geben; dem Wesen der Gnade dagegen
entspricht es, die individuellen Umstände des konkreten Falles
zu würdigen. Es ist unmöglich, die unendliche Vielgestaltigkeit
der letzteren im Voraus bei der Aufstellung von Rechtsregeln und
Verwaltungsvorschriften in Betracht zu ziehen. Eine gar zu weit
ausgedehnte discretionäre Gewalt der Behörden ist aber auch nicht
ohne Nachtheile und Gefahren; sie ermöglicht eine willkürliche
und parteiische Verwaltung oder wenigstens eine Ungleichheit in
der Führung der Amtsgeschäfte, welche als Willkür und Partei-
lichkeit aufgefasst werden kann; sie untergräbt das Ansehen und
die Kraft des gesetzlichen Rechts und sie kann zu einer erheb-
lichen Schädigung der Staatsfinanzen führen. Man hat daher die
Ermächtigung der Behörden, von den Vorschriften der Gesetze
und Verordnungen aus Billigkeitsgründen abzuweichen und nach
discretionärem Ermessen Freigebigkeitsakte vorzunehmen, stets
mit weiser Vorsicht abgegrenzt und auf solche Fälle beschränkt,
welche ihrer Natur nach häufig und mit einer gewissen Stetigkeit