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Dass ein praktisches Bedürfniss zu Gnadenerlassen auch auf
dem Gebiet der Steuer- und Gebührenerhebung vorhanden ist,
dass unter Umständen die Erhebung einer Erbschaftssteuer eine
ebenso unbillige Härte in sich schliessen kann wie die Geltend-
machung eines fiskalischen Erbrechts!) und die gnadenweise
Niederschlagung von Gerichtskosten durch Billigkeitsrücksichten
ebenso gerechtfertigt sein kann wie der gnadenweise Erlass einer
Geldstrafe '5), bedarf keiner Ausführung. Dies ist aber bei einer
juristischen Erörterung des positiven Rechts nicht von entschei-
dender Bedeutung. Denn wenn sich ergiebt, dass das positive
Recht ein Gnadenrecht in Steuersachen nicht kennt, so würde
die Konstatirung des Bedürfnisses hieran nichts ändern, sondern
nur de lege ferenda das Verlangen auf Abänderung des bestehen-
den Rechts behufs Befriedigung dieses Bedürfnisses rechtfertigen
und es ist nicht zu verkennen, dass dies auf verschiedenen
Wegen geschehen könnte. Immerhin ist die Erkenntniss, dass
die Möglichkeit, Steuern und Gebühren im Wege der Gnade zu
erlassen, einem thatsächlich vorhandenen, durch die staatlichen
und wirthschaftlichen Lebensverhältnisse begründeten Bedürfniss
entspricht, für die Auslegung des positiven Rechts nicht ganz
unerheblich, indem man es wenigstens als wahrscheinlich an-
nehmen darf, dass der Gesetzgeber ein solches Bedürfniss be-
rücksichtigt habe.
Thatsächlich ist es nun ganz zweifellos, dass vor Einführung
der Verfassung der König auch in Steuer- und Gebührensachen
das unbeschränkte (nadenrecht gehabt und ausgeübt hat. Wenn
es dafür einer ausdrücklichen Bestätigung überhaupt bedürfte, so
14) Man denke z. B. an den Fall eines durch Nachlässigkeit verschuldeten
Eisenbahnunglücks. Hier würde es gewiss dem Rechts- und Billigkeitsgefühl
nicht entsprechen, wenn der Fiskus von den Hinterbliebenen der Verunglückten
rücksichtslos die Erbschaftssteuer einziehen würde.
15) Wenn sich z. B. herausstellt, dass die Verurtheilung auf falschen
Zeugenaussagen oder auf einer Verwechslung der Person des rechtskräftig
Verurtheilten mit dem wirklichen Thäter beruht u, dgl.