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Man könnte nun freilich darauf hinweisen, dass, wenn die
Verfassungsurkunde überhaupt das königliche Gnadenrecht erwähnt,
die Annahme nahe liege, dass sie es auch in seinem Umfange
begrenze, so dass aus der ausdrücklichen Erwähnung des Rechts
der Begnadigung in Strafsachen sich ergebe, dass andere An-
wendungsfälle des Gnadenrechts ausgeschlossen seien. Abgesehen
aber von der Schwäche, die jedes argumentum e contrario in sich
selbst trägt, ist dasselbe im vorliegenden Falle deshalb aus-
geschlossen, weil gerade zur Erwähnung des Begnadigungsrechts in
Strafsachen eine besondere Veranlassung gegeben war. Der Art. 49
unterwirft dasselbe nämlich zwei eingreifenden Beschränkungen
hinsichtlich eines wegen seiner Amtshandlungen verurtheilten Mi-
nisters und hinsichtlich bereits eingeleiteter Untersuchungen. Um
diese Beschränkungen oder Ausnahmen kurz und deutlich zu for-
muliren, musste das Begnadigungsrecht des Königs als Regel
vorangestellt werden. In der Sanktion dieser Beschränkungen
liegt die eigentliche Tendenz des Art. 49; daher fehlte es an
einer Veranlassung, das Gnadenrecht ausserhalb des strafrecht-
lichen Gebietes zu erwähnen ?°).
3) Ebensowenig wie aus dem Art. 49 ist aus dem Art. 101
der Verf.-Urk. die Aufhebung des königlichen Gnadenrechts in
Steuersachen zu folgern. Dieser Artikel bestimmt in Abs. 1:
„In Betreff der Steuern können Bevorzugungen nicht eingeführt
werden.“ Dieser Artikel enthält eine Direktive für die Steuer-
gesetzgebung, das Verbot der Schaffung von Steuerprivilegien.
Dass der Abs. 1 nur das Prinzip aufstellt, dass hinsichtlich der
Besteuerung gleiches Recht für Alle gelten solle, ergiebt sich aus
dem Abs. 2 desselben Artikels, welcher anordnet, dass die be-
stehende Steuergesetzgebung einer Revision unterworfen und dabei
jede Bevorzugung abgeschafft werde. Hier ist es unzweifelhaft,
dass der Ausdruck „Bevorzugung“ eine gesetzliche Ausnahme-
20) Dies ist richtig hervorgehoben worden vom Abg. SCHUMACHER in der
Sitzung vom 21. Jan. 1891, Stenogr. Berichte 8. 419.