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innerhalb des positiven Rechts übernahm v. HoLTZEnnDorRFF im I. Bande
an der Spitze des ganzen Werkes. M. E. kann an eine auch die Leugner
des Völkerrechts (vielleicht) überzeugende Untersuchung dieses Problems
nur gedacht werden auf Grund sorgfältigster Darlegung des für die Induktion
massgebenden Materials der internationalen Thatbestände, welche thatsächlich
eine Regelung gefunden haben, die dem Belieben und dem Einflusse politischer
Erwägungen der betheiligten Rechtssubjekte entrückt sind. Die Eigenart
dieser Thatbestände mag bisher vielfach dazu beigetragen häben, Kriterien
zu übersehen, ohne welche die Existenz und Herrschaft objektiven Rechts
nach bisher geläufigen Anschauungen über letzteres nicht gedacht werden kann.
Andererseits darf man nicht übersehen, dass das Wesen des Rechts in seiner
allgemeinen Kategorisirung Gegenstand von tiefgehenden Meinungsverschieden-
heiten ist; die verschiedenen Anschauungen über dieses Problem sind vielfach
mächtig genug, bei Lösung des völkerrechtlichen Problems als Ausgangs-
punkte einer Deduktion verwerthet zu werden, welche den Resultaten der oben
angedeuteten Induktion die überzeugende Kraft nehmen. Dieses missliche
Ergebniss kann natürlich nur vermieden werden, wenn allseitig in der all-
gemeinen Rechtslehre deduktives Vorgehen fallen gelassen wird und die mass-
gebenden Grundbegriffe ausschliesslich auf induktivem Wege gewonnen werden.
Dann mag man immerhin die Erwartung aussprechen, dass auch das Völker-
rechtsproblem der Lösung zugänglich ist. Die Voraussetzungen der Lösung
liegen aber, wie bemerkt, in der Anwendung einer gleichmässigen Methode
(der Induktion) innerhalb der allgemeinen Rechtslehre und der Untersuchung
jener Thatbestände, die im internationalen Leben constante Bedeutung gewonnen
haben und sich als die dauernden Erscheinungen der internationalen Beziehungen
darstellen. — Der mir hier angewiesene Raum für eine kurze Anzeige des um-
fangreichen Werkes verbietet mir den kritischen Gang gegenüber den einzelnen
Arbeiten. Es mag mir daher auch nachgesehen werden, wenn so mancher
verdienstvollen Arbeit, welche das Werk ziert, die Anerkennung nicht zu
Theil wird, die ich ihr doch nur durch ein sorgsames Eingehen in die Details
zollen möchte. Ich muss mich daher darauf beschränken, den Lesern dieser
Zeitschrift das reiche Material, welches hier verarbeitet wurde, äusserlich zu
markiren. Nur das Eine sei hier voraufgeschickt, dass der Leser ausser mancherlei
(in einem Sammelwerke nicht zu vermeidenden) gegensätzlichen Anschauungen
über denselben Gegenstand, der in verschiedenen Materien wiederkehrt, in
mancher Arbeit das Hereingreifen politischer Werthurtheile wahrnehmen wird,
welche die Einhaltung strenger Objektivität zuweilen erschweren, und sohin
die Kritik erschweren, da sie den Streitpunkt verdunkeln.
Die Untersuchung der Grundbegriffe, die Feststellung der Grundlagen
der wissenschaftlichen Systematik unseres Rechtstheils, die Theorie der Quellen
des Völkerrechts und die geschichtliche Entwickelung der internationalen
Rechts- und Staatsbeziehungen von v. HoLTZENDORFF füllt den grösseren Theil
des I. Bandes aus. Der geschichtliche Bestandtheil dieser Arbeit schliesst