Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 3.) 117
den Tarifprojecten verschiedener Staaten darüber kein Zweifel, daß diese erste Vo-
raussetzung der seit 1865 maßgebenden deutschen Tarifpolitik nunmehr hinfällig
ist. Die zweite Voraussetzung, unter welcher die dauernde Beibehaltung jener
Tarifpolitik gerechtfertigt werden konnte, bestand darin, daß keine für Deutsch-
land ungünstige Aenderung in den wirkhichaftlichen Machtverh tnissen der
Nationen gegenüber dem Zustande zur Zeit des Abschlusses der Handelsver-
träge in den Sechsziger-Jahren eintrat. Auch diese Voraussetzung ist nicht ein-
getroffen. Die grohartige Entwickelung der Verkehrsanstalten hat die Pro-
ductionsstätten und Absahgebiete wesentlich anders gestaltet, als vor gehn
oder zwanzig Jahren. Der einheimische Absag der wichtigsten buischer Pro-
ducte der Land- n Forstwirthschaft wie der Industrie ist durch eine Massen=
production des Auslandes und die erleichterte Ableitung derselben auf den
deutschen Markt in einer Weise bedroht, wie es noch vor kurzer Zeit nicht
vorausgesehen werden konnte. Dazu kommt weiter, daß umgekehrt die frem-
den Nationen vielfach — es genügt, an Nordamerika zu erinnern — gelernt
haben, durch die ? Jollgesetgebung und die Schaffung einer eigenen Industrie
die Einfuhr aus Deutschland zu entbehren. Der bisherige, im We Tentlichen
auf den Vertragsverhaudlungen mit Oesterreich und Frankreich beruhende
deutsche Tarif ist deshalb — wenn auch zur Zeit seiner gesetlichen Feststel-
lung mancher gute Grund für denselben geltend gemacht werden konnte —
unter den gegenwärtigen Verhältnissen in volkswirthschaftlicher Bchiehung
nicht mehr genügend. Wenn hienach das Bedürfuiß einer umfassenden Ne-
vision des Zolltarifs nicht zu bezweifeln ist, so ist zugleich im Wesentlichen
die Art und Weise angezeigt, wie die Reform des Tarifs auszuführen ist.
Hinsichtlich des finanziellen Zweckes der Norm konnte die Frage entstehen,
ob derselbe nicht in der Weise zu erreichen wäre, daß — neben der gleich-
zeitig in Aussicht genommenen höheren Besleuerung von Bier und Tabak —
nur einzelne Artikel, welche dazu besonders geeignet erscheinen, als Gegenstand
höherer Zollbelastung behandelt würden. Allein abgesehen davon, daß sich
eine scharfe Grenzlinie zwischen sogenannten Finanzzöllen und sogenannten
Schutzzöllen überhaupt nicht ziehen läßt, so mußte es auch aus anderen
Gründen räthlicher erscheinen, die erforderliche Bermehrung der Reichsein-
nahmen aus den Zöllen nicht durch eine sehr starke Belastung einiger we-
niger Artikel, sondern durch eine größere Reihe von mäßigen ZJollbelegungen
und Follerhöhungen bur Verwirklichung zu bringen. Ein solches System der
Tarifreform schließt sich der besonderen Natur der deutschen Verhältnisse an,
weil gerade in der Manchfeltigtet der zur Besteuerung herangezogenen Ge-
geustände die Gewähr dafür liegt, daß troy der in den einzelnen Staaten
des Reichs sehr verschiedenarkigen Consumtionsverhältnisse keine einfeitige
Ueberlastung bestimmter Gebiekstheile eintrete. Nur bei diesem Verfahren
erscheint es möglich, die unentbehrliche breite Grundlage für die deutsche
Stenerreform zu gewinnen, durch welche eine Erleichterung auf dem Gebiete
der direcken Steuern gesichert wird. Auch die volkswirthschaftlichen Rück-
sichten tounen nur auf dem bezeichneten Wege zur vollen Geltung gelangen.
Im Hinblick auf die Lage der deutschen Industrie, sowie der deutschen Land-
und orstwirchschaft handelt es sich nicht darum, nur einzelnen Industrie-
zweigen Lurch besondere Schutzzölle zu Hilfe zu lommen, sondern vielmehr
darum, der gesammten inne Production einen Vorzug vor der aus-
ländischen Production auf dem einheimischen Markte zu gewähren, soweit
überhaupt nach der Lage der betreffenden Productionszweige die Gewährung
eines solchen Vorzugs angemessen erscheint. In diesem Sinne wurden die
sämmtlichen Positionen des Zolltarifs von der dazu niedergesehten Commission
einer Prüfung unterstellt. Die letztere führte zunächst bei den wichtigsten
land= und forstwirkhschaftlichen Producten zu dem Vorschlage der Wiederein=