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nicht dem Wahlgesetz, sondern der Reichsverfassung selbst ange-
hören. Eine Abänderung des geltenden Rechts (Art. 27 R.-V.)
wäre also eine Verfassungsänderung und unterläge der er-
schwerenden Vorschrift des Art. 78. Dass sich aber im Bundes-
rath die zu der Äenderung erforderliche Mehrheit finden würde,
möchte ich kaum bezweifeln; viel fraglicher erscheint es, ob ein
Beschluss des Reichstags in der bezeichneten Richtung zu er-
langen ist, da nun einmal die Legitimationsprüfung durch den
Reichstag vielfach für ein Palladium der Freiheit gehalten wird.
Birr will diese Prüfung beseitigen und an ihre Stelle eine
sulche durch die Reichswahlbehörde setzen, die aus einer Anzahl
vom Bundesrath angestellter Mitglieder und einer Anzahl von Dele-
girten der stärksten Parteien des Reichstags bestehen soll; diese
müssten wohl je am Schluss einer „Legislaturperiode“ gewählt
werden. Mit dem ersten negativen Teil des Vorschlags bin ich
einverstanden; dagegen erscheint mir der vorgeschlagene positive
Ersatz bedenklich.
Dass der Reichstag selbst die Legitimation seiner Mitglieder
prüft, über die Anfechtung der Wahlen entscheidet, das scheint
mir staatsrechtlich verkehrt und moralisch verwerflich und ver-
derblich. — Der Reichstag ist eine gesetzgebende Körper-
schaft, die Entscheidung über Wahlanfechtungen, worin doch die
Legitimationsprüfung gipfelt, wo nicht sich erschöpft, ist eine
richterliche Thätigkeit, allerdings keine vor den Civilrichter,
auch keine vor den Strafrichter, sondern eine zur Zuständigkeit
des „Verwaltungsrichters“ gehörige Sache. Grundsätzlich gehörten
also die fraglichen Entscheidungen nicht vor den Reichstag, und
es kann sich nur fragen, ob nicht die Aufrechterhaltung des be-
stehenden Zustands durch Gründe der Zweckmässigkeit gerecht-
fertigt wird. Allein die Geschichte der Wahlanfechtungen in den
seit der Gründung des Reichs verflossenen 22 Jahren führt zur
Verneinung der Frage: die Legitimationsprüfung durch den Reichs-
tag vergiftet die politische Moral, und da diese nur ein Teil der
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