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dıe Entscheidung über Wahlanfechtungen einen Haupttheil seiner
Geschäfte zu bilden hätte, von ihm also überwiegend strafrecht-
liche oder doch dem Strafrecht verwandte Fragen zu erledigen
wären, überwiegend mit kriminalistischen Mitgliedern des Gerichts
zu besetzen. In den Kriminalsenaten des Reichsgerichts ist aber
zur Zeit das staatsanwaltschaftliche Element sehr stark vertreten,
und dass die Staatsanwalts-Laufbahn eine Schule der Unabhängig-
heit, Unbefangenheit und Unparteilichkeit sei, wird kaum jemand
behaupten, — wenn es jemand behauptet, so wird es der Reichs-
tag nicht glauben. Dieser wird also als Kompensation für das
Opfer des eigenen Prüfungsrechts die Einräumung eines Einflusses
auf die Besetzung des Gerichts verlangen, dem das Urtheil über
die Anfechtungen übertragen werden soll, und dieses Verlangen
wird man um so mehr als berechtigt anerkennen müssen, als die
Art und Weise, wie seither die Reichsgerichtsstellen besetzt
worden sind, zwar nothdürftig mit dem Buchstaben, aber schwer-
lich mit dem Geiste des Gesetzes vereinbar ist. — „Der Präsident,
die Senatspräsidenten und die Räthe werden auf Vorschlag des
Bundesraths von dem’) Kaiser ernannt,‘ so verfügt für das Reichs-
gericht $ 127 des Gerichtsverfassungsgesetzes. Thatsächlich aber
erfolgt die Ernennung nicht auf den Vorschlag des Bundesraths,
sondern auf den Vorschlag der einzelnen Bundesstaaten: geht
ein Mitglied des Gerichts ab, so ist in allen Zeitungen zu lesen,
es sei eine preussische, bayrische etc. Stelle erledigt. Es ist ganz
in der Ordnung
oO!
allen Theilen des Reichs, so weit wie möglich aus allen einzelnen
wenn zu Richtern am Reichsgericht Juristen aus
Staaten berufen werden, aber ein Präsentationsrecht, wie es auf
Grund einer proportionalen Vertheilung der Reichsgerichtssitze
geübt wird, kennt das Gesetz nicht, und ob diese Uebung dem
Gerieht immer die tüchtigsten Mitglieder zuführt, möchte fraglich
5) Von welchem Kaiser ? Gewiss nur vom deutschen Kaiser, also wäre
richtig deutsch zu sagen gewesen: vom Kaiser ernannt; vgl. WUsTMann.
Allerhand Sprachdummheiten, S. 260.