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mus; der Hume’sche Empirismus sei zu ergänzen durch die von Kant ange-
nommene, &a priori bestehende Verstandeskategorie der Kausalität. Von
diesem richtigen Standpunkte aus gelangt Tönnıes aber zu unhaltbaren
Schlüssen, indem er, gestützt auf die Thatsache, dass es geistige Kräfte und
Tendenzen giebt, welche der Erfahrung vorausgehen, annimmt, die Be-
obachtungswelt könne unter bestimmte, auch zum Voraus gegebene Ideen
und Prinzipien rubrizirt werden. So ist der Standpunkt des Verfassers ein
rein rationalistischer und idealistischer; er macht sich bestimmte Begriffe
und sucht dann die Wirklichkeit darunter zu ordnen, wobei er die letztere
rein idealistisch auffasst. Die Begriffe sind: Gemeinschaft — Gesellschaft;
Wesenwillen — Willkür. Mit diesen Kategorien will Tönnıes die Grund-
probleme des socialen Lebens erfassen und darin zugleich die Faktoren der
sogenannten Kulturentwicklung gefunden haben. Das Empirische glaubt er
damit zu bieten, dass er die verschiedenartigsten Erscheinungen in der
menschlichen Gesellschaft unter seine aufgestellten Schablonen stellt. Dass
dabei Willkürlichkeiten und schiefe Auffassungen unterlaufen müssen, ist
klar. Tönnıss fasst in seiner Uebersicht der Ergebnisse die Begriffe und die
Arten des menschlichen Nebeneinanderlebens folgendermassen zusammen:
A. Gemeinschaft. 1. Familienleben = Eintracht. Hierin ist der Mensch mit
seiner ganzen Gesinnung. Ihr eigentliches Subjekt ist das Volk. 2) Dorf-
leben — Sitte. Hierin ist der Mensch mit seinem ganzen Gemüthe. Ihr eigent-
liches Subjekt ist das Gemeinwesen. 3) Städtisches Leben = Religion. Hierin
ist der Mensch mit seinem ganzen (Gewissen. Ihr eigentliches Subjekt ist
die Kirche. B. Gesellschaft. 1) Grossstädtisches Leben —= Convention. Diese
setzt der Mensch mit seiner ganzen Bestrebung. Ihr eigentliches Subjekt
ist die Gesellschaft schlechthin. 2) Nationales Leben = Politik. Diese setzt
der Mensch mit seiner ganzen Berechnung. Ihr eigentliches Subjekt ist der
Staat. 3) Kosmopolitisches Leben = Oeffentliche Meinung. Diese setzt der
Mensch mit seiner gesammten Bewusstheit. Ihr eigentliches Subjekt ist die
Gelehrten-Republik etc. Tönsıes rechnet mit seinen Kategorien wie der
Mathematiker mit Zahlen, ohne zu bedenken, dass dem letzteren sein Ergeb-
niss nur stimmt, weil seine Faktoren und Grössen fest begrenzte und ge-
gebene sind. Mit verschwommenen Begriffen aber, wie Eintracht, Gesinnung,
Sitte, Gemüth, Gewissen, Berechnung, Bewusstheit u. s. w., lässt es sich
nicht systematisiren. Ist es wirklich richtig, dass das Familienleben die
Eintracht, das Dorfleben die Sitte, das städtische Leben die Religion
repräsentirt; lassen sich auf so schwankenden Grenzen wie diejenigen
zwischen städtischem und grossstädtischem Leben derartige Gegensätze auf-
bauen wie Religion und Convention ?
Am Schlusse seines Werkes giebt uns Tönnızes noch ‚„Proömien des
Naturrechts.“ Mit seinen beiden Doppelkategorien sucht er auch das ge-
sammte Rechtsleben zu umfassen und zu erklären. Wir erfahren dabei z. B.,