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Träger des Staatengesellschaftsrechtes, welches, wie alles Recht,
in materielles und formelles geschieden werden müsste.
Was zunächst das formelle Staatengesellschaftsrecht anbetrifft,
so müsste der erste und wesentlichste Grundsatz derselben dahin
gehen, dass alle Streitigkeiten unter den völkerrechtlich mit ein-
ander verbundenen Staaten nicht durch den Krieg, sondern im
Wege eines Processes zu entscheiden sind, welcher die Selbsthilfe
ausschliesst, allen Anforderungen der modernen Rechtswissenschaft
zu genügen und mit dem Urtheile eines entsprechend organisirten
Gerichtshofes abzuschliessen hätte.
Wenn diese Auffassung der landläufigen Schulweisheit vieler
Publicisten nicht nur als völlig unpraktisch, sondern auch als be-
grifflich verfehlt erscheint, so übersieht man dabei, in welchen
grausamen Widerspruch zu jeder juristischen Logik man sich mit
einer Bemängelung der soeben entwickelten Gedanken setzt. Richtig
ist freilich, dass, wenn das Gesagte zutrifft, dasjenige, was man
heutzutage mit so grossem Stolze als „Völkerrecht“ bezeichnet,
nichts anderes darstellt, als einen ja gewiss sehr anerkennens-
werthen, aber doch immerhin wenig befriedigenden Ansatz zu
einem wirklichen Staatengesellschaftsrechte; und die Erkenntniss
dieser ebenso einfachen wie bedeutungsvollen Wahrheit sollte
man, so beschämend sie auch in mancher Hinsicht wirken muss,
nicht dadurch zu erschweren oder hintanzuhalten versuchen, dass
man beständig das ‚geltende Völkerrecht“ als eine Materie hin-
stellt, welche durch Statuirung eines entsprechenden Process-
verfahrens zu vervollkommnen weder möglich noch wünschens-
werth sei.
Mag man also auch immerhin den Namen „Völkerrecht“
beibehalten, so sollte man doch stets eingedenk bleiben, dass
dasselbe noch keineswegs den Anforderungen entspricht, welche
der Natur der Sache nach an dasselbe zu stellen sind.
Genauer zugesehen, ist es aber auch garnicht der Mangel an
Verständniss für die Möglichkeit oder Nothwendigkeit eines ge-