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ner ganzen Ausdehnung ansieht; nun ist es aber eben das Merk-
würdige, dass ein Zweig, welcher von einem Stamme abgetrennt
wird und den man, nach der allgemeinen Beobachtung, für abge-
storben halten sollte, wenn er als Pfropfreis einem anderen Stamme
aufgesetzt wird, sich auf diesem lebenskräftiger entwickelt, als es
ihm vielleicht sonst beschieden gewesen wäre; und so steht es
auch offensichtlich im politischen Leben; es ist durchaus denk-
bar, dass ein Theil des Staatsgebietes von diesem abgetrennt
und einem andern Staatswesen einverleibt wird und hier oft
besser gedeiht, als wenn er in seiner alten Verbindung verblieben
wäre. Warum nun aber ein derartiger Vorgang, wenn er sich im
Uebrigen nach den Regeln formellen, juristischen Denkens ab-
spielt, völkerrechtlich unstatthaft sein müsse, ist schlechterdings
unerfindlich.
Man sieht, dass sich auch hier wieder als unrichtig erweist,
juristische Probleme durch ein Bild aus der Natur lösen zu wollen,
denn Rechtsphilosophie ist eben nicht Naturgeschichte und muss
Vieles begrifflich construiren, wofür sich in der organischen Welt
kein Gleichniss finden lässt. Es ist für den Gärtner vielleicht
unmöglich, zwei Stämme, deren jeder bis dahin selbstständig im
Boden wurzelte, mit einander verwachsen zu lassen; aber warum
es nun desshalb nicht angängig sein soll, dass zwei Staaten
gleichzeitig ihre gesonderte Existenz aufgeben und auf Grund
eines, nach ihren eigensten Gesetzen durchaus rechtmässigen und
bei beiden in gleicher Weise eintretenden Processes, in einander
hineinwachsen, kann man nicht einsehen.
Fürwahr: das Kantische Gleichniss ıst unzweifelhaft nur ein,
nicht ganz glücklicher Nothbehelf zur Unterstützung einer Ansicht,
welche an sich richtige, staatsrechtliche Anschauungen ohne
entsprechende Modification auf das völkerrechtliche Gebiet über-
trägt; der Philosoph verfällt hier in einen Irrthum, aus dem sich
oft genug schon schiefe Vorstellungen entwickelt haben, und der
vielleicht am Deutlichsten zeigt, wie mangelhaft das Wort. „Völker-