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schaftsverhältniss der bisher über sie souverainen Staatsgewalt
als nicht mehr für sich bindend anerkennen. Lösen sie dieses
Verhältniss, treten sie also aus ihrem bisherigen Staatsverbande
aus, so müssen sie, nach der ganzen Grundanschauung des
modernen Rechtes, einer andern Staatsgewalt unterthan werden,
weil der Kulturmensch ohne Staatsbürgerqualität gar nicht denk-
bar ist; und als diese moderne Staatsgewalt erscheint nach allem,
was soeben über die Entstehung der Staaten vorgetragen worden
ist, nothwendigerweise diejenige, welcher die Territorialhoheit
über den Wohnsitz des Einzelnen zusteht; aber umgekehrt ent-
spricht dieser unbedingten Pflicht des Einzelnen nimmermehr ein
unbedingtes Recht für die Regierung eines Staates, welcher
von einem andern ein bestimmtes Gebiet erwirbt, die Bewohner des
letzteren ohne Weiteres als ihre Unterthanen auch dann zu be-
trachten, wenn dieselben sich nach wie vor als Bürger des Staates
fühlen wollen, welcher das Gebiet cedirte, denn, wenn einmal der
Einzelne eine nach allen Regeln der Kunst voll und ganz anzu-
erkennende Staatsbürgerqualität besitzt, so wird diese gleichsam
ein integrirender Bestandtheil seiner Individualität, und da, wie
schon einmal hervorgehoben wurde, das moderne Recht seinem
ganzen Wesen nach nichts anderes sein und enthalten kann,
als die unbedingte Anerkennung der Individualität”), so kann
?) Aus dieser Pflicht des Staates zur unbedingten Anerkennung der In-
dividualität folgt ohne Weiteres auch die in der modernen Wissenschaft
übrigens allgemein bestätigte Theorie, dass bei einer Aenderung der Länder-
vertheilung die privatrechtlichen Verhältnisse des Einzelnen schlechterdings
unberührt bleiben müssen; und daraus wieder ergibt sich, dass das auf
einem Gebiete geltende Privatrecht überhaupt zunächst seine Giltigkeit be-
hält, während natürlich die staatsrechtlichen Verhältnisse von der Regierung
des erwerbenden Staates für nothwendig erachtete Modification erfahren.
und, soweit eine solche Modification nicht eintritt, ihren begrifflichen Grund
nur in der ausdrücklichen Genehmigung durch die neue Regierung finden
können.
Vgl. im Uebrigen über den hier behaupteten „unauslöschlichen Charakter
der Staatsbürgerqualität“ STOERK a. a. O. 3. 153 ff, wo es heisst, dass die
Archiv für öffentliches Recht. VII. 2. 3. 16