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leitung‘ erblickt, so dürfte diese erhebliche Differenz beweisen;
wie wenig mit einer solchen Generalisirung gewonnen ist. Meines
Erachtens muss die Beschaffenheit jedes einzelnen Falles des
Bettelns besonders geprüft werden, z. B. auch nach der Richtung
hin, ob das Kind dabei falsche Thatsachen vorgespiegelt, ob es
den Eltern den Empfang des Geldes verheimlicht, zu welchen
/wecken es dasselbe verwandt hat u. s. w.
In zweiter Linie ist die Persönlichkeit der Eltern oder
sonstigen Erzieher des Kindes zu berücksichtigen. Nur wenn
(lese keine ausreichende Gewähr für eine gute Erziehung und
/Jurückführung des Kindes auf den rechten Weg bietet, ist die
/wangserziehung zulässig. Dabei ist aber, wie schon früher be-
merkt wurde, nach dem geltenden Rechte ein Verschulden der
Eltern oder sonstigen Erzieher nicht unbedingt erforderlich; es ge-
nügt, dass die erziehliche Einwirkung derselben und der Schule sich
zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung der Kinder als un-
„ulänglich erweist!3). Andererseits erscheint aber die Erziehungs-
unfähigkeit eines einzelnen Elterntheils nicht ausreichend, wenn die
Persönlichkeit des anderen Theiles ein hinreichend schweres Gegen-
gewicht bietet. Ist z. B. der Vater ein Trunkenbold, die Mutter
aber eine ordentliche Frau, die sowohl die Energie als auch die
sonstige Fähigkeit besitzt, die bisher in zu weitem Umfange dem
Ehemanne überlassene Erziehung eines ungerathenen Kindes zu
leiten, so ist die Unterbringung des letzteren zur Zwangserziehung
nicht gerechtfertigt. Derartige Fälle sind aber äusserst selten;
es müssen aussergewöhnlich starke Naturen sein, welche den
perniciösen Einfluss des moralisch gesunkenen Ehegatten von den
Kindern fern zu halten vermögen, und die bereits bestehende
sittliche Verwahrlosung eines Kindes rechtfertigt in der Regel
13) Die späteren Gesetze, nämlich das badische vom 4. Mai 1886, das
hessische vom 11. Juni 1887 und das Hamburger Gesetz vom 6. April 1887,
heben dies ausdrücklich hervor.