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sich aber ihrem Inhalte nach nicht ganz mit der vorangegangenen
Vereinbarung. Denn es hiess in der Proclamation: „Demgemäss
werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preussen fortan
den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegen-
heiten des Deutschen Reiches führen“. Nicht also der Bundes-
präsident bloss nahm die Kaiserwürde an, sondern auch das
Commando über die Land- und Seemacht ging von dem Könige
von Preussen als solchen auf den Kaiser, das Organ des Reiches,
über. Es mag dahingestellt bleiben, ob der König von Preussen
auf ihm verfassungsmässig zustehende Rechte einseitig zu Gunsten
des deutschen Kaisers verzichten kann. Jedes Bedenken in dieser
Beziehung ist dadurch beseitigt, dass die neue Redaction der
Reichsverfassung vom 16. April 1871 auch da, wo früher von
dem Bundesfeldherrn und dem Oberbefehlshaber der Marine die
Rede gewesen war, den „Kaiser“, substituirte und damit den
Inhalt der Kaiserproclamation nachträglich legalisirte.
Durch diese Aenderung war aber, obwohl man es von Anfang
an gar nicht beabsichtigt hatte, die letzte Spur der Rechtsidee,
dass innerhalb der neuen bundesmässigen Organisation dem
preussischen Staate und seinem Herrscher als solchen Rechte
gegenüber den anderen Bundesstaaten zuständen, beseitigt. Das
Recht des preussischen Staates beschränkt sich darauf, dass mit
der Person seines Herrschers nothwendig die Eigenschaft eines her-
vorragenden Organs des Reiches verbunden ist. Aber dieses Organ,
der Kaiser, ist eine vom Könige von Preussen verschiedene staats-
rechtliche Persönlichkeit, wenn auch beide in derselben physischen
Person vereinigt sein müssen. Die Unterscheidung der norddeutschen
Bundesverfassung zwischen den von dem Könige von Preussen als
solchen zu eigenem Rechte und den von ihm als einem beson-
deren Bundesorgan Namens der Gesammtheit auszuübenden Befug-
nissen ist damit im Wesentlichen hinfällig geworden. Abgesehen
von den Rechten des Königs von Preussen im Bundesrathe hat
nicht mehr dieser, sondern der von ihm staatsrechtlich zu unter-