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Einwand ausschlösse. Wenn etwa ein unentwickeltes Recht den Richter be-
züglich bestimmter Materien anweist, „nach Gelegenheit und Gestalt der Sache*
zu verfahren, so ist dem, was er als sachgemäss demnächst erkennen und
seinem Urtheil zu Grunde legen wird, allerdings von vornherein die positive
Rechtsqualität zugesichert. Aber besitzt der bezügliche Gedanke diese Eigen-
schaft bereits, ehe er vom Richter gefunden und seinem Urtheil zu Grunde
gelegt ist? Dem nasciturus ist für den Fall seines Erscheinens von vorn-
herein die Rechtssubjektivität zugesichert, besitzt er sie deshalb bereits vor-
her? Für BERGBOHM’s Standpunkt dürfte es unmöglich sein, dem geschicht-
lichen Antheil des Richters an der Prositivirung des Rechtsinhaltes voll ge-
recht zu werden.
Die Revision der historischen Rechtstheorie führt den Verfasser zu einer
neuen Formulirung des geschichtlichen Prinzips. Während Savıcsy
und PucHTa dasselbe auf den Inhalt des Rechts, d. i. auf die Ueberzeugungen
der in nationaler Gemeinschaft Lebenden, welche darin zum Ausdruck kommen,
beziehen, wird es von BERGBOHM auf die Rechtsform oder den Rechts-
befehl, dasjenige, wodurch jenem Inhalte erst der Rechtscharakter verliehen
werde, bezogen. Die Bedeutung des Prinzips wird näher in der folgenden
Weise von ihm bestimmt. „Damit eine praktische, Handlungen oder Verhält-
nisse der Menschen und ihrer Vereine bestimmende Norm oder Regel posi-
tives Recht im Sinne der Jurisprudenz und Rechtswissenschaft, in allen ihren
Zweigen und Stufen sein könne, ist eine unerlässliche Bedingung die, dass
sie zu dem wesentlichen normativen Inhalt die ebenso wesentliche Rechts-
form erworben habe, was nur auf die Weise geschehen konnte, dass ihr eine
kompetente rechtbildende Macht durch einen geeigneten, äusserlich erkennbaren
Vorgang, der als solcher der Geschichte angehört und die formelle Rechts-
quelle der betreffenden Norm bildet, die Rechtsqualität verlieh.“ BERGBOHM
meint, dass das so bestimmte „echte“ historische Prinzip bei SAvIGNY und
PucHTA vorausgesetzt und nur nicht zu bestimmtem Ausdruck gelangt sei
(526, 550). Dem ist jedoch nicht beizustimmen. Durch seine Formulirung
gewinnt das Prinzip eine Bedeutung, die den Anschauungen unserer Historiker
nicht nur fern lag, sondern einen Gegensatz zu ihnen bildet. Für diese ist
es bezeichnend, dass sie die heteronome Natur des Rechts, die in der BERG-
BOHM’schen Formel einen Ausdruck findet, verneinen.
Ihnen zufolge ist die historisch gewordene Volksüberzeugung positives
Recht, sie wird dies nicht erst durch den Willensentscheid einer äusseren
Autorität. Ein solcher ıst vielmehr dem Rechtsbegriff der Schule gegenüber
etwas Indifferentes. Es war daher nicht zufällig, dass Savıeny und PvcHTA
das geschichtliche Prinzip nicht auf dieses Formale, nicht auf die Positivirung
des Rechts durch äussere That und Befehl, abgestellt haben. Sie würden
durch letzteres vielmehr ihren Rechtsbegriff aufgegeben haben. BERGBOIM
bemerkt nicht, dass sich hier einfach zwei verschiedene Rechtsbegriffe ent-
gegentreten und dass der Begriff, von dem er selbst ausgeht, eine von der-