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Gageur, Karl, Staatsanwalt am Gr. Landgericht Freiburg i. B.
Reform des Wahlrechts im Reich und in Baden. Frei-
burg ı. B. und Leipzig. 1893. Akademische Verlagsbuchhandlung von
J. C. B. Mohr. (Paul Siebeck.)
Die Reformvorschläge des Verfassers laufen im Wesentlichen auf die
Einführung eines Proportionalwahlsystems hinaus, also eines Systems, bei
welchem jede Partei die ihrer Stärke entsprechende Zahl von Abgeordneten
entsendet, indem mit der für die Wahl eines Abgeordneten erforderlichen
Stimmenzahl in die Gesammtzahl der für eine Partei abgegebenen Stimmen
dividirt wird, sodass der Quotient die Zahl der der Partei zukommenden Man-
date angibt.
In einem ersten Abschnitt, betreffend „das Wahlrecht‘, erklärt er
sich zwar für die Allgemeinheit, aber nicht für die Gleichheit des Wahl-
rechts. lür verwirft jedoch die Abstufung des Wahlrechts nach dem höheren
Vermögen oder nach der Bildung, ebenso den Vorschlag STUART MiıLts, die
Beschäftigung der Staatsbürger zur Grundlage der Klasseneintheilung zu
machen. Er will dem höheren Lebensalter als solchen einen erweiterten Ein-
fluss auf die Wahlen einräumen, indem er jedem Wähler, welcher in das
fünfzigste Lebensjahr eingetreten ist, eine doppelte Stimme verleiht. Die Ab-
sicht ist die, den besonneneren und lebenserfahreneren Elementen einen grösseren
Einfluss bei den politischen Wahlen einzuräumen, gegenüber den oft mit un-
klaren politischen Ideen erfüllten, der vollen Selbständigkeit und Unabhängig-
keit ermangelnden jüngeren Wählern. Eine Bevorzugung des gereifteren
Lebensalters durch Verleihung eines doppelten Stinnmrechts erscheint aus den
angeführten Gründen durchaus sympathisch. Warum aber soll diese Bevor-
zugung erst mit dem fünfzigsten Lebensjahre beginnen, wo, insbesondere bei
den handarbeitenden Klassen, die Arbeitskraft und damit das Selbstbewusst-
sein bereits abzunehmen beginnt und der Wähler daher oft schon in eine
abhängige Lage kommt, sei es den Kindern, oder dem Arbeitgeber gegenüber.
Mit 40 Jahren besitzt doch Jedermann die ihm überhaupt erreichbare pu-
litische Reife. Die für die Hinaufrückung der Altersgrenze massgebende
Erwägung des Verfassers, dass dann die ältere und die jüngere nur einfaclıes
Stimmrecht besitzende Wählerklasse sich ungefähr das Gleichgewicht halten
würden, kann doch kein ausschlaggebender Grund sein, da die Absicht eben
dahin geht, der politischen Reife ein Uebergewicht zu verschaffen und es sich
auch nicht um verschiedene gleich zu behandelnde Parteien handelt.
Im zweiten Abschnitt, betreffend „das Wahlverfahren‘, erörtert
Verfasser sodann die Vorzüge der Proportionalwahlen vor den Mehrheits-
wahlen, gibt aber zu, dass das System der Mehrheitswahlen den Vortheil
der Einfachheit für sich hat, und deshalb sehr klar und durchsichtig, das
Wahlergebniss rasch feststellbar und leicht controlirbar ist. Er gibt sodann
einen Ueberblick über die bisherigen Reformvorschläge und Abhülfeversuche
und entwickelt seine eignen, sich im Wesentlichen an das belgische Verfahren