Full text: Archiv für öffentliches Recht.Neunter Band. (9)

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Literatur. 
Charles Borgeaud, Etablissement et Revision des Constitutions 
en Amerique et en Europe. Paris 1893. 8°. 423 Seiten. 
Das vorliegende Werk ist nicht eine Zusammenstellung von Verfassungs- 
bestimmungen über die Formen, in welchen die geltenden Verfassungen 
theilweise abgeändert oder im Ganzen revidirt werden können, sondern eine 
mit Geist und Sachkenntniss geschriebene politisch& und rechtsvergleichende 
Studie. Der Verf. geht von dem Grundsatz aus, dass „die constituirende 
Gewalt“ ihrem Wesen nach verschieden sei von der „gesetzgebenden Gewalt“. 
Nach seiner Ansicht empfängt der Träger der gesetzgebenden Gewalt, ebenso 
wie der der vollziehenden und richterlichen, sein „Mandat“ und gemgemäss 
auch seine Zuständigkeit von der verfassunggebenden Gewalt. Die consti- 
tuirende Gewalt errichte erst die gesetzgebende Gewalt und bestimme ihre 
Organe, ihren Geschäftsgang, ihre Zuständigkeit; die Thätigkeit des Gesetz- 
gebers sei daher auf das durch die constituirende Gewalt ihm zugewiesene 
Gebiet beschränkt und er sei ausser Stande, in den der constituirenden Gewalt 
vorbehaltenen Bereich einzugreifen. Dazu genüge auch nicht die Beobach- 
tung gewisser erschwerender Formen, sondern die Verfassungsänderung müsse 
von einem andern Subject ausgehen wie das gewöhnliche Gesetz; die Gesetz- 
gebung sei nur die Function eines staatlichen Organs, das constituirende 
Gesetz ein unmittelbarer Act des Souveräns selbst. 
Wenn also dem Volke ein Antheil an der Souveränetät zustehe, wie 
in den constitutionellen Monarchien, so müsse auch dem Volke unmittelbar 
eine Mitbestimmung bei Abänderungen der Verfassung zustehen; und wenn 
das Volk allein souverän sei, wie in den Republiken, so könne eine Verfassungs- 
änderung nur durch eine Volksabstimmung sanctionirt werden. Beschlüsse 
der repräsentativen Körperschaften seien dazu nicht genügend. Dieser Grund- 
satz sei in fast allen Staaten, welche eine geschriebene Verfassung haben, 
zur Anerkennung gekommen; nur in Preussen und in dem von preussischen 
Anschauungen beeinflussten Deutschen Reich sind die regelmässigen Organe 
der Gesetzgebung bei Einhaltung gewisser Formen (wiederholte Abstimmung 
im preussischen Landtag, verstärkte Majorität im deutschen Bundesrathe) 
zur Abänderung der Verfassung befugt. Dadurch werde der wesentliche
	        
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