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Unterschied zwischen der constituirenden und der gesetzgebenden Thätigkeit
vermischt und verfassungsändernde Gesetze und gewöhnliche Gesetze einander
gleichgestellt. Dieses systeme prussien stelle einen „halb mittelalterlichen“
Zustand dar, eine Nachwirkung der absoluten Fürstengewalt und nur dem
Glück der preussischen Waffen und dem blendenden Eindruck der preussischen
Eroberungen sei es zu danken, dass dieses System sich erhalten und sogar
in der ausserdeutschen Wissenschaft Vertheidigung gefunden habe. Bei den
vorgeschritteneren Völkern sei der Grundsatz, dass jede Verfassungsänderung
der unmittelbaren und besonderen Zustimmung des Volkes bedürfe zur An-
erkennung gelangt, wenngleich im Einzelnen in sehr verschiedenartiger Aus-
gestaltung. In den west- und südeuropäischen, sowie in den scandinavischen
Monarchien vollzieht sich zwar auch die Verfassungsänderung in den Formen
der Gesetzgebung mit mancherlei verschiedenartigen Erschwerungen: in der
überwiegenden Mehrzahl dieser Staaten besteht aber die Vorschrift, dass
der Beschluss über eine in Vorschlag gebrachte Abänderung der Verfassung
von einem durch Neuwahlen gebildeten oder besonders ad hoc gewählten
gesetzgebenden Körper gefasst werden muss, so dass durch die Wahl von
Freunden oder Gegnern der proponirten Verfassungsänderung eine dem Ple-
biseit ähnliche Erklärung des Volkswillens abgegeben werde. In den Staaten
der reinen und unbeschränkten Volksherrschaft, insbesondere in den Einzel-
"staaten Nordamerika’s und nach der Unionsverfassung selbst, sowie in den
Kantonen der Schweiz und nach der Verfassung der Eidgenossenschaft müsse
jede Verfassungsänderung durch eine unmittelbare und ausdrückliche Erklärung
des Volkes vermittelst allgemeiner Abstimmung genehmigt werden.
Sonderbarer Weise hat dieser Grundsatz aber in Frankreich eine —
nach Ansicht des Verfassers freilich vorübergehende — Verläugnung gefunden.
Die noch jetzt in Geltung stehende Verfassung von 1875 ist durch kein Ple-
biseit genehmigt worden und sie bestimmt im Art. 8, dass wenn die beiden
Kammern, jede für sich, beschliessen, dass die Verfassung abgeändert werden
soll, sie sich zur Assemblee nationale vereinigen und dass die mit absoluter
Mehrheit der Mitglieder gefassten Beschlüsse der Assemblee nationale Rechts-
kraft erlangen, ohne dass ihre Sanction durch Plebiscit erforderlich ist. Nach
diesem Verfahren ist die Verfassung von 1875 in einzelnen Punkten 1879 und
besonders 1884 abgeändert worden, ohne Befragung des Volkes weder durch
Neuwahlen noch durch Plebiscit. Der Verf. ist darüber sehr ungehalten; er
erblickt hierin eine unzulässige Vermengung von Verfassung und Gesetzgebung
und behauptet, dass das System der jetzigen Verfassung identisch sei mit dem
unter den letzten Bourbonen und unter dem Julikönigthum herrschend gewe-
senen, welches niemals, unter keiner Regierung, das System des französischen
Rechts (!) gewesen sei. Er will nicht glauben, dass die Nationalversamm-
lung von Versailles im Jahre 1875 „la methode prussienne“ habe anerkennen
wollen; er weist darauf hin, dass die französische Verfassung ein Plebisecit
zwar nicht erfordere, aber auch nicht verbiete und .er räth, allen Zweifeln
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