— 318 —
Carl Jentsch, Geschichtsphilosophische Gedanken. Ein Leit-
faden durch die Widersprüche des Lebens. Leipzig. Verlag
von Fr. Wilh. Grunow 1892.
Das vorliegende Werk ist eine Sammlung einzelner, zuerst in dem
„Grenzboten“ erschienener und zu einem ganzen verbundener philosophischer
und kulturhistorischer Aufsätze.
Von der Nothwendigkeit eines bewussten Weltgeistes ausgehend, be-
schäftigt sich Verfasser zunächst mit dem Weltzweck, den Begriffen der
Glückseligkeit und Vollkommenheit, des Fortschrittes, und gelangt dann zu
dem leitenden, das ganze Werk durchziehenden Grundgedanken: „Der Zweck
aller Veränderungen ist nicht die Herbeiführung eines endgiltigen Zustandes,
nicht die Lösung der drei grossen Fragen des Menschengeschlechts, der
metaphysischen, der religiös-kirchlichen und der politisch-socialen, sondern
umgekehrt eine fortwährende Gleichgewichtsstörung, die den Menschen zu
einer wechselnden Thätigkeit und so zur Entfaltung seiner Kräfte und An-
lagen zwingt.“ Von diesem Grundsatze ausgehend wird sodann das Wesen
der politischen Parteien und Volksvertretungen, unter Anwendung auf einige
historische Erscheinungen, insbesondere mittelalterliche Zustände und die
Reformation, erörtert. Schliesslich wird das Verhältniss der protestantischen
und katholischen Confessionen zu einander, das Verhältniss der Sittlichkeit
zu Christenthum, Staat und Kirche und der letzteren untereinander, die Zu-
kunft der Kirchen, der Begriff der Freiheit in den Bereich der Unter-
suchung gezogen, um mit der Schilderung der nächsten Aufgaben der christ-
lichen Welt’zu schliessen.
Die in vorzüglichem Deutsch geschriebenen Gedanken geben die ganze
Welt- und Lebensanschauung eines hochgebildeten und zugleich mit den
praktischen Anforderungen des Lebens, besonders aber auch mit den Lebens-
verhältnissen der unteren Klassen wohlvertrauten, nach allen Seiten unab-
hängigen Mannes wieder, der zu keiner unserer heutigen philosophischen,
politischen oder confessionellen Parteien schwört, sondern ausserhalb und
über ihnen steht. — Die Fülle der sich drängenden, zum Theil in schein-
barem Widerspruch stehenden Gedanken hat es zu Wege gebracht, dass die
bisherige Kritik sich, obgleich der grösste Theil des Buches von religiösen
Dingen handelt, über den religiösen Standpunkt des Verfassers gar nicht
klar geworden ist; sonst wäre es unmöglich, dass der Verfasser in der
einen Kritik für einen vorurtheilslosen evangelischen Christen, in einer
andern für offenbar nicht dem evangelischen, sondern dem katholischen, viel-
leicht dem altkatholischen Glauben angehörig, erklärt wird, während ein
dritter auf positiv kirchlichem Standpunkt stehender Kritiker meiut, dass er
auf ernstein in der Hauptsache auf kirchlichem (?) Standpunkt stehe. Denn:
Verfasser erklärt zwar einerseits die Religion für ein unaussprechlich hohes
Gut und schätzt das Christenthum als das höchste Cultur-Element, führt
aber anderseits auch aus, dass das Christenihum keine neue Moral ge-