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Staatsindividuen beliebig abgeändert werden kann. Geschieht es,
so liegt eben auch keine partielle staatliche Willensbindung nach
der beabsichtigten Richtung vor, d. h. keine rechtliche Ge-
währ dafür, dass die Verwirklichung der Bedürfnisse des Gemein-
daseins über die Grenzen des staatlichen Gemeinwesens hinaus
gesichert sind.
Die europäische Diplomatie hat diesem Gedanken wiederholt
Formulirung gegeben, so anlässlich der Londoner Conferenzen
über den Pontusvertrag [13. März 1871]: „Les Puissances recon-
naissent que c’est un princip essentiel du droit des gens qu’aucune
Puissance ne peut se delier des engagements d’un Traite ni en
modifier les stipulations qu’a la suite de l’assentiment des Parties
Contractantes au moyen d’une entente amicale.‘“ Wenige Jahre
später führte derselbe Grundgedanke der formalen Vertragstreue
zum Vertrage vom 11. October 1878, in welchem Oesterreich
Preussen von der Verbindlichkeit lossprach, welche diesem im
Art. 5 des Prager Friedens vom 23. August 1866 in Ansehung
der Befragung der Bevölkerung von Nordschleswig auferlegt
worden war.
Durch den freien Willen der Contrahenten geschlossen, können
so Staatsverträge ihrem ganzen oder ihrem Theilinhalte nach
selbstverständlich auch durch freie Uebereinkunft der Betheiligten
wieder aufgehoben werden. Bei den grossen Üollectivverträgen,
Unionen, Verwaltungsvereinen folgt daraus die Nothwendigkeit,
dass sämmtliche Vertragsparteien sich wegen nachträglicher Ab-
änderungen miteinander in Verbindung setzen müssen, ein Be-
dürfniss, dem in der Regel durch vertragsmässig vorgesehene wieder-
kehrende Revisionsconferenzen Rechnung getragen wird. Die
Zuwiderhandlung des einen Contrahenten hebt in diesen Fällen
natürlich nur die Rechtsgemeinschaft mit diesem, nicht aber
unter allen anderen Contrahenten auf. Anders liegt aber oflen-
bar die Sache bei den Specialverträgen einzelner Staaten über
Angelegenheiten ihres engeren gemeinsamen Bedürfnisskreises.