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bühne jede Regung nüchternen Urtheils übertrumpft wird, auch auf dem
Gebiete wissenschaftlicher Verständigung die Vorhand gewinnen? Anstatt
nun vor allem das Ziel seiner neuen Wissenschaft näher zu präcisiren, weist
der Autor ohne Weiteres auf die Bahnrichtung letzterer hin, und begnügt
sich auch bei dieser Aufgabe nur mit flüchtigen Andeutungen auf wenigen
Seiten. Der schöne Wunsch, den Autor, wie im Gefühl beregten Mangels
ausspricht, hilft nicht über denselben hinweg: „möge die spärliche Hütte,
welche in dieser Schrift der ethnologischen Jurisprudenz zu bauen versucht
ist, dereinst einmal zu einem glänzenden Palaste menschlichen Wissens aus-
wachsen“. Darauf macht er sich gleich an die Anfuhr seines Baumaterials,
das er möglichst weit aus allen Weltenden herbeiholt, meist im morschen
Karren des traditur, fertur. Bleibt aber bei diesem Verfahren, zur Beur-
theilung seiner Berechtigung, für die Kritik schon hinsichtlich des quid und
cui bono nicht viel mehr als blosse Muthmassung übrig, so erst recht hin-
sichtlich des quomodo quibusque auxiliis.
Offenbar scheint Autor sich noch durchaus im Bannkreise von zwei
Ideen zu befinden, welche der heutige Standpunkt exacter Wissenschaftlich-
keit und staatsmännischer Empirie bereits ad acta zu legen beginnt. Zunächst
scheint er die Tendenz des Normal-Menschlichen mit dem Begriff des All-
gemein-Menschlichen zu verwechseln bezw. zu identificiren. Ueberall betont
er als massgebendes Moment, und gleichsam als novum seiner Wissenschatt
die gemeinsamen Erscheinungsformen der menschlichen Gattungsnatur unter
allen Erdenvölkern. Die mannigfachen Abweichungen lässt er ohne syste-
matische Eingliederung in seinen „Grundriss“, weil dieselben keinen „selb-
ständigen Werth“ besässen.
Seine Seele scheint nicht zu ahnen, dass er damit seinen Grundriss von
vornherein blossstell. Oder weiss er etwa nicht, dass keiner auf das reale
Leben angewandten Wissenschaft mehr fremd ist, was die Psychologie längst
erkannt hat, nämlich, dass die Menschen nicht nur Gattungsgeschöpfe, sondern
auch Individuen sind, mithin die durch letztere Eigenschaft bedingte Un-
gleichheit nicht minder ein naturgesetzliches Factum ist als die durch erstere
Eigenschaft bedingte Gleichheit. Wo unseren besten Autoritäten in Privat-,
Staats- und Völkerrecht, u. a. R. v. Mout auch in Staatswissenschaft und
Politik, auf rechtsphilosophische Begründung zurückgreifen, rechnen sie auch
stets mit beiden Grössen.
Diese Autoritäten hat Referent durchaus auf seiner Seite, wenn er sagt,
dass das Normal-Menschliche nicht die elementare Einheit jener allgemeineren
Seiten der Menschennatur ist, welche gewisse homogene Lebenserscheinungen
unter allen Erdenvölkern gezeitigt hat und zeitig. Das normative Charak-
teristicum ist vielmehr die culturelle Eigenart des Allgemein-Menschlichen in
nationaler Ausgestaltung, wodurch Horden zu Völkern werden — ist, mit
A. VInET, einem der ersten und geistvollsten Denker sociologischer Richtung
gesprochen, das Princip der Individualität: proprie communia dicere. „Der
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