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an die Stelle der alten getreten ist, sondern erst durch ein verwickeltes und
‘namentlich in Deutschland langwieriges Auseinandersetzungsverfahren der
Schutt des feudalen Staates bei Seite geschafft und der Raum für die con-
sequente Durchführung eines neuen Staatsgebäudes gewonnen wurde, so ist
auch die neue theoretische Erkenntniss theils von hergebrachten und über-
kommenen Vorstellungen nicht frei, sondern muss sich erst allmählich von
ihnen ablösen, theils ist sie durch die Berücksichtigung der vorhandenen posi-
tiven Rechtszustände an einer radikalen und consequenten Durchführung der
neuen Prinzipien gehindert. In hervorragendem Masse gilt dies von den
theoretischen Erörterungen über das innerlich morsche, langsam dahin sinkende
Deutsche Reich, dessen Institutionen sich weder mit den alten noch mit den
neuen Anschauungen völlig erklären und begreifen liessen. Solche Perioden
sind für die Dogmengeschichte des Staatsrechts von ganz besonderer Wichtig-
keit; mit den neuen Verhältnissen entstehen auch neue wissenschaftliche
Grundanschauungen. Da aber die Trümmer der vergangenen oder vergehen-
den Rechtsordnung noch mächtig hervorragen, so können sich die neuen
Prinzipien nicht einfach und zweifellos entfalten, sondern es treten nach
einander einzelne neue Gesichtspunkte hervor, von denen man eine zwar neue,
aber einseitige Beleuchtung gewinnt, und die nicht ohne Widerspruch, Ein-
schränkungen und scholastische Kunstgriffe durchgeführt werden können,
durch welche aber die neue Gesammtauffassung des Staates und aller seiner
Einrichtungen fortgebildet, und ihrem endlichen consequenten Abschluss ent-
gegengeführt wird. Das Auftauchen eines solchen neuen fruchtbaren Ge-
dankens in der Litteratur bedeutet dann einen Wendepunkt in der Dogmatik
und giebt oft für lange Zeit der Theorie die Richtung und ein besonderes
Gepräge. Es ist vom grösstem dogmengeschichtlichen Interesse, solche Be-
fruchtungen der Theorie und die von ihnen ausgehenden Fortbildungen und
Entwicklungen zu verfolgen.
Einen solchen Wendepunkt in der staatsrechtlichen Doctrin bezeichnet
das Erscheinen des Werkes von JEAN Bonın, „les six livres de la Republique“
im Jahre 1576.
In Frankreich hatte nicht nur das Königthum viel früher und viel voll-
ständiger als in Deutschland die feudalen Herren sich unterworfen, sondern
zugleich mit der Entstehung des absoluten Staats hatte sich Frankreich zum
Einheitsstaat und zur Grossmacht entwickelt und dadurch eine Staatsgewalt
erzeugt, die nach Aussen furchtbar, nach Innen unwiderstehlich war. In
Deutschland dagegen fehlte dem Reich die Einheit, den Territorien die Grösse,
beiden die Macht. Im französischen Königthum trat diese Machtfülle, diese
vollkommene Unabhängigkeit und freie Selbstbestimmung, diese Alles über-
ragende und zum Gehorsam zwingende Herrschaft, die sich ihre Grenzen
nach eigener Willkür steckte, für Jedermann sichtbar hervor und erschien
als die Verwirklichung eines den feudalen Einrichtungen gerade entgegen-
gesetzten Staatsgedankens, Die Theorie des absoluten Stastsrechts nahm daher