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werden dürfe. Der Abgeordnete GEIGER bemerkte in dieser Hin-
sicht: „Nun kann ich mir ja’ allerdings einen Fall denken, in
welchem der Jurist dem Politiker auszuweichen hat. Es ist das
nämlich der Fall, wenn das Wohl des Landes im engsten Sinne,
wenn die Existenz, der Fortbestand unseres Staates von der
Aenderung der Verfassung abhängen würde. In diesem Falle
würde auch der Jurist mit dem Politiker gehen, denn er würde
sagen, das war jedenfalls nicht die Absicht des Gesetzgebers, des
Gebers der Verfassung, dass wegen des Verbotes der Aenderung
der Verfassung der Staat selbst in Gefahr gerathen solle.“
Dr. ORTERER verlieh demselben Gedanken Ausdruck in
folgenden Worten:
„Wir wissen sehr gut, dass in diesem Fall, wenn die salus
publica, ich will damit sagen, der Bestand unseres geliebten
Vaterlandes irgendwie in ernste Gefährdung käme, dass ... dann...
der Jurist dem Politiker auszuweichen habe.®
Wann nun aber eine Gefährdung der salus publica vorliegt,
das entscheiden die gesetzgebenden Factoren und somit lässt sich
sagen, dass auch nach der Ansicht der Abgeordneten GEIGER
und ORTERER die Verfassung jeder Zeit geändert werden kann,
wenn und sobald der Gesetzgeber dies will.
Gelegentlich dieser zweitägigen Debatten über die Verfassungs-
änderungsfrage wurde Seitens mehrerer Redner die Regierung auf-
gefordert, aus ihrer bisherigen Reserve herauszutreten und zur
Frage eine bestimmte Stellung zu nehmen.
Die kgl. bayerische Staatsregierung hatte es bisher vermieden,
sich über dieselbe klar und deutlich auszusprechen, nur gelegent-
liche Aeusserungen einzelner Minister lagen bis jetzt vor. So
äusserte sich der Finanzminister Freiherr v. RiEDEL anlässlich
der Behandlung der Placetfrage in der Sitzung der Kammer der
Abgeordneten vom 6. Nov. 1889 ®:
* Verhandlungen der bayerischen Kammer der Abgeordneten, Jahrg.
1889/96, stenographische Berichte, Bd. IV, 8. 151ff.