Full text: Archiv für öffentliches Recht.Zehnter Band. (10)

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gestellt werden müssen. Sie wäre auch sicherlich nicht zu beanstanden, wenn 
sie die Entstehungsgeschichte des Reiches und namentlich die Absicht der 
sämmtlichen Kontrahenten der Bundes- bezw. Reichsverfassung unbestritten 
für sich hätte. Diese Verfassung und mit ihr das Bundesverhältniss nicht für 
ein völkerrechtliches Verhältniss zu erachten, sondern als ein für alle einzelnen 
Staaten verbindliches Gesetz auszulegen, welches auf einer über ihnen stehen- 
den Macht, auf dem staatlichen Willen der Gesammtheit beruht, ist, wie man 
auch den Vorgang sich zurechtlegen mag, immerhin gekünstelt, zumal die 
„Gesammtheit“, der Gesetzgeber, eben zur Zeit des Abschlusses der Verträge 
in der realen Welt gar nicht existirte. Es ist auch nicht abzusehen, warum 
der Begriff des Staatenbundes nicht ausreichen sollte, um alle die geschicht- 
lich gewordenen Eigenthümlichkeiten in dem Verhältnisse der deutschen 
Gliedstaaten zum Reiche in genügender Weise zu erklären; denn einerseits 
stehen doch auch die halbsouveränen Staaten zu ihrem Souzerän nur in einem 
völkerrechtlichen Verhältniss und andererseits kann auch ein völkerrechtlicher 
Bund die verbündeten Staaten so enge und innig umschliessen, dass alle 
wichtigeren staatlichen Aufgaben zu gemeinsamen Aufgaben werden, d. h. 
durch die Gesammtheit erfüllt und von ihrem Willen geleitet werden. Der 
Satz, dass die ganze Rechtssphäre der Einzelstaaten zur Disposition des ver- 
fassungsmässig erklärten Willens des Reiches steht (die „berühmte* Conı- 
petenz-Competenz HÄneEL’s), ist ja, so absolut hingestellt, eigentlich die Ver- 
neinung der Rechtssphäre der Einzelstaaten überhaupt; denn was in jedem 
Augenblick rechtlich genommen werden kann, besitzt man nicht zu Recht, 
wenn man es auch thatsächlich inne hat. Allein der Satz verliert wesentlich 
seinen Schrecken, sobald man über der Personifikation des Reiches nicht ver- 
gisst, dass es eben wieder die Einzelstaaten sind, welche in ihm, in ihrer 
Zusammengesellung das ganze staatliche Leben ausmachen. Auch der Vor- 
rang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen ist eben so wenig ein un- 
trügliches Kennzeichen für die Verneinung des völkerrechtlichen Bandes, wie 
das Vorhandensein eigener Reichsorgane. Denn auch bei einem völker- 
rechtlichen Verbande können die Bundeszwecke und die zu ihrer Ausführung 
erlassenen Anordnungen den Landesgesetzen vorgehen. Zuzugeben ist natür- 
lich, dass das Reich nicht ein Staatenbund nach dem Muster des alten 
Deutschen Bundes ist, aber nicht einzuräumen ist, dass der Begriff des Staaten- 
bundes nicht umfassender sein sollte, als er in dieser geschichtlichen That- 
sache sich verkörpert hat. Muss sich doch auch der Begriff des Bundes- 
staates von seinen Anhängern manche Modifikation in der Anwendung 
gefallen lassen und unbestreitbar liegt auch hier eine Meinungsverschiedenheit 
vor, welche praktisch-politisch durchaus nicht so weltbewegend ist, als es auf 
den ersten Blick erscheinen könnte. 
Dasselbe gilt von der Kontroverse über den Begriff des formellen und 
materiellen Gesetzes, und wenn man auch nicht so weit gehen will als Vav- 
THIER ‘(Das Staatsrecht des Königreichs Belgien 1892, 8. 77), dass nämlich
	        
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