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gestellt werden müssen. Sie wäre auch sicherlich nicht zu beanstanden, wenn
sie die Entstehungsgeschichte des Reiches und namentlich die Absicht der
sämmtlichen Kontrahenten der Bundes- bezw. Reichsverfassung unbestritten
für sich hätte. Diese Verfassung und mit ihr das Bundesverhältniss nicht für
ein völkerrechtliches Verhältniss zu erachten, sondern als ein für alle einzelnen
Staaten verbindliches Gesetz auszulegen, welches auf einer über ihnen stehen-
den Macht, auf dem staatlichen Willen der Gesammtheit beruht, ist, wie man
auch den Vorgang sich zurechtlegen mag, immerhin gekünstelt, zumal die
„Gesammtheit“, der Gesetzgeber, eben zur Zeit des Abschlusses der Verträge
in der realen Welt gar nicht existirte. Es ist auch nicht abzusehen, warum
der Begriff des Staatenbundes nicht ausreichen sollte, um alle die geschicht-
lich gewordenen Eigenthümlichkeiten in dem Verhältnisse der deutschen
Gliedstaaten zum Reiche in genügender Weise zu erklären; denn einerseits
stehen doch auch die halbsouveränen Staaten zu ihrem Souzerän nur in einem
völkerrechtlichen Verhältniss und andererseits kann auch ein völkerrechtlicher
Bund die verbündeten Staaten so enge und innig umschliessen, dass alle
wichtigeren staatlichen Aufgaben zu gemeinsamen Aufgaben werden, d. h.
durch die Gesammtheit erfüllt und von ihrem Willen geleitet werden. Der
Satz, dass die ganze Rechtssphäre der Einzelstaaten zur Disposition des ver-
fassungsmässig erklärten Willens des Reiches steht (die „berühmte* Conı-
petenz-Competenz HÄneEL’s), ist ja, so absolut hingestellt, eigentlich die Ver-
neinung der Rechtssphäre der Einzelstaaten überhaupt; denn was in jedem
Augenblick rechtlich genommen werden kann, besitzt man nicht zu Recht,
wenn man es auch thatsächlich inne hat. Allein der Satz verliert wesentlich
seinen Schrecken, sobald man über der Personifikation des Reiches nicht ver-
gisst, dass es eben wieder die Einzelstaaten sind, welche in ihm, in ihrer
Zusammengesellung das ganze staatliche Leben ausmachen. Auch der Vor-
rang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen ist eben so wenig ein un-
trügliches Kennzeichen für die Verneinung des völkerrechtlichen Bandes, wie
das Vorhandensein eigener Reichsorgane. Denn auch bei einem völker-
rechtlichen Verbande können die Bundeszwecke und die zu ihrer Ausführung
erlassenen Anordnungen den Landesgesetzen vorgehen. Zuzugeben ist natür-
lich, dass das Reich nicht ein Staatenbund nach dem Muster des alten
Deutschen Bundes ist, aber nicht einzuräumen ist, dass der Begriff des Staaten-
bundes nicht umfassender sein sollte, als er in dieser geschichtlichen That-
sache sich verkörpert hat. Muss sich doch auch der Begriff des Bundes-
staates von seinen Anhängern manche Modifikation in der Anwendung
gefallen lassen und unbestreitbar liegt auch hier eine Meinungsverschiedenheit
vor, welche praktisch-politisch durchaus nicht so weltbewegend ist, als es auf
den ersten Blick erscheinen könnte.
Dasselbe gilt von der Kontroverse über den Begriff des formellen und
materiellen Gesetzes, und wenn man auch nicht so weit gehen will als Vav-
THIER ‘(Das Staatsrecht des Königreichs Belgien 1892, 8. 77), dass nämlich