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aufgeworfene Frage: „Wie gross ist der Gewinn an geistigem Reichthum,
seitdem in gesetzgebenden Körperschaften geredet wird?“ kann jeder un-
befangene Geschichtsschreiber oder Staatsgelehrte klar und bündig beant-
worten, der z. B. die gewaltigen Debatten der deutschen Nationalversamm-
lung an der Hand des neunbändigen stenographischen Berichtes oder meines
demnächst erscheinenden Buches „Reden und Redner des ersten deutschen
Parlaments“ (Österwieck, A. W. Zickfeldt, 1895), an seinem geistigen Auge
vorüberziehen lässt.
Cassel. G. Mollat.
F. Oetker, Die strafrechtliche Haftung des verantwortlichen
Redakteurs. Stuttgart, Verlag von F. Enke, 1893.
Der Verfasser giebt in der vorliegenden Abhandlung eine Untersuchung
des Wesens der durch die Bestimmungen des Reichs-Pressgesetzes normirten
strafrechtlichen Haftung des verantwortlichen Redakteurs; er wendet sich
hiebei gegen die bisher vertretenen Auffassungen dieser Haftung und bietet
seinerseits eine durchaus neue und eigenartige Konstruktion derselben.
Anknüpfend an die actio de effusis et deiectis und ähnliche Haftungs-
verhältnisse, wie sie sich namentlich im älteren partikularen Straf- und
Schadensersatzrecht finden, — vgl. desselben Verfassers Abhandlung: Krimi-
nelle und civile Haftung Dritter nach hessischen Rechtsquellen. Stuttgart
1892 — kommt Verfasser in Anwendung des in diesen Verhältnissen ge-
gebenen Prinzips der „Kriminellen Garantie“ auf die Haftung des Redakteurs
zu folgendem Resultat:
„Die Haftung des Redakteurs nach $ 20 Abs. 1, in Anwendung der all-
gemeinen Strafgesetze, ist Thäter- bezw. Theilnehmerhaftung; die Bestrafung
wegen Fahrlässigkeit nach $ 21 macht reine Garantenhaftung geltend; die
Haftung nach $ 20 Abs. 2 beruht auf Thäter-Garantenschaft, kann aber diesen
problematischen Charakter verlieren und als reine Thäterhaftung auftreten.“
Der geistvolle Aufbau dieser neuen Theorie und die hauptsächlich in
den „Anmerkungen“ unter Beibringung einer Fülle von für Rechtsgeschichte
wie Reichsvergleichung werthvollen Material gegebenen Begründung der-
selben rufen das Interesse des Lesers im hohen Masse wach.
Besonders hingewiesen sei auch auf die Ausführungen, in welchen der
Verfasser — über den gerade vorliegenden Zweck hinausgehend — die für
die Auslegung einer Gesetzesvorschrift s. E. massgebenden Grundsätze, ins-
besondere die Art und Weise der Benutzung der Materialien, derlegt. ORTKER
weist (s. insbes. Anm. 64, 8. 69) der Auslegung die doppelte Aufgabe zu:
„zunächst aus den Materialien die geistigen Potenzen zu erkennen, unter
deren Einfluss die handelnden, bei der Gesetzgebungsarbeit betheiligten In-
dividuen gestanden haben, und dann die Richtung zu bestimmen, die dem
Gesetzeswillen durch die gleichzeitige Einwirkung der verschiedenen Grund-
ideen, der Bewegungsursachen, gegeben wurden‘.