Zur Theorie
des österreichischen Arbeiterversicherungsrechts '.
Von
Dr. J. OFNER in Wien.
Jede Gesellschaftsklasse und damit auch die von ihr geleitete
Gesellschaft bildet sich eine Idee von dem Wesen und Zweck
des Staates gemäss ihren eigenen Bestrebungen und den Bedin-
gungen ihrer Macht. Für die theokratische Gesellschaft ist der
Staat eine grosse Kirche, für die kriegerische ein bewaffnetes
Lager, für die kaufmännische eine Bank, ein Geld-, Spar-, Credit-
und Versicherungsinstitut, für die industrielle ein Produktivunter-
nehmen. Wir können alle diese Anschauungen heute beobachten.
Die theokratische hat wohl den Höhepunkt überschritten, ist aber
noch verbreitet genug; das bewaffnete Lager haben wir, und das
Bankinstitut bildet sich immer mehr aus; das Produktivunter-
nehmen ist vorläufig Ideal der Sozialdemokraten. Der Versiche-
rungsgedanke gehört der kaufmännischen Aera an. Doch ist es
irreführend, wenn man bei der Arbeiterversicherung in dem Worte
mehr als eine Analogie im Zweck erblickt. Die Arbeiterversiche-
rung hat mit der Pensionirung von Staatsdienern und der Ver-
sorgung ihrer Hinterbliebenen eine grössere innere Verwandtschaft,
als mit dem Verhältniss aus einem Versicherungsvertrag.
1 Dr. AnoLr MenzeL, Die Arbeiterversicherung nach österreichischem
Rechte. Leipzig, Duncker & Humblot. 1893.