55 —
Wenn man von dem Ideenkreis der individuellen Wirth-
schaft ausgeht, so lehnt sich die Arbeiterversicherung an den Be-
griff des Normallohns an. Der Lohn des Arbeiters soll aus-
reichen, um dem Arbeiter und seiner Familie nicht bloss den
Unterhalt für die Zeit des Arbeitens zu gewähren, sondern auch
einen Sparpfennig für Zeiten, da er nicht arbeiten kann, Zeiten
der Arbeitslosigkeit, der Krankheit, des Alters oder der Invali-
dität, endlich der Vaterlosigkeit seiner Familie zu schaffen. Die
Verschiedenheit der wirthschaftlichen Macht des Arbeitgebers
und des Arbeiters lässt diesen Normallohn bei uns im gewöhn-
lichen Wege nicht entstehen. Der Staat nimmt daher die Sorge
für den Arbeiter in Ausnahmszeiten, da er nicht arbeiten kann,
in seine Hand und legt nach der bisherigen Praxis den Bethei-
ligten hiezu eine Gebühr auf. Diese Characteristik der Ver-
sicherung und der abverlangten Beiträge ist allein geeignet, bei
der Feststellung der Rechtsverhältnisse aus der Arbeiterversiche-
rung Irrwege zu verhüten. Weder die Personen der Verpflichte-
ten und Berechtigten, noch auch das Maass ihrer Verpflichtung und
Berechtigung oder deren Verhältniss zu einander darf nach Ana-
logie des Versicherungsvertrags beurtheilt werden. Ebensowenig
dürfen verschiedene Systeme der Arbeiterversicherung, um ihre
Güte zu messen, mit Rücksicht auf den Versicherungsvertrag als
Urbild verglichen werden.
Damit ist auch schon die Frage, ob die Arbeiterversicherung
einen Öffentlich-rechtlichen oder einen gemischten, theils
öffentlich- theils privatrechtlichen Charakter habe, beantwortet.
Die Gründe für den Antheil des Privatrechts an dem Institut
lassen sich anschaulich durch die Analogie des Schulwesens wider-
legen. Auch das Schulwesen ist nicht bloss im Interesse des
Staates gelegen, sondern zugleich insbesondere im Interesse der
einzelnen Schüler. Neben den Öffentlichen Lehranstalten gibt es
private, und ebenso ist Unterricht im Hause gestattet. Die Rechts-
verhältnisse, welche aus dem Hausunterrichte zwischen Eltern und