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12.
Nach dem Ausgeführten ist die Verkehrs-Ordnung kein Gesetz
und ebensowenig eine gesetzvertretende Verordnung, weder in
ihrer Gesammtheit, noch in einzelnen Theilen oder Beziehungen.
Sie ist vielmehr ein den Eisenbahnen vom Bundesrath auf Grund des
Art. 45 der Reichs-Verfassung im Aufsichtswege direkt ertheilter
Verwaltungsbefehl, welcher innerhalb des durch das Handelsgesetz-
buch gegebenen allgemeinen Rahmens die speziellen Normen ent-
hält, nach denen die Verwaltungen den Eisenbahnfrachtvertrag
abzuschliessen haben. Da nun dessen Eingehung nicht unter
andern als den in diesem Befehle enthaltenen Bedingungen er-
folgen darf und gültig erfolgen kann°?, so werden die in der
Verkehrs-Ordnung enthaltenen abstrakten Normativbestimmungen
in concreto bei jedem einzelnen Transport zur lex contractus.
Wenn dieser Standpunkt, wie gezeigt, der allein korrekte ist,
so kommt ihm doch nur eine wesentlich formelle Bedeutung zu,
Materiell betrachtet, wirkt die Verkehrs-Ordnung wie ein Gesetz,
und zwar wie ein zwingendes Gresetz. Die nach ihren Vorschriften
abgeschlossenen Verträge gehören allerdings dem subjektiven
Rechte an. Insofern diese Vorschriften aber beim Abschluss
jedes EisenbahnfrachtvertragesAnwendung finden und finden müssen.
63 Anderer Meinung ist in dieser Hinsicht LaBann, 2. Aufl. des Staats-
rechts, II!, S. 127 Anm. 1, wo folgendes ausgeführt wird: „Wenn im einzelnen
Falle nach anderen Bedingungen der Vertrag abgeschlossen worden ist, sei
es ausdrücklich, sei es stillschweigend nach dem aus den Umständen zu ent-
nehmenden Consens, so kann der betreffende Eisenbahnbeamte, resp. die
Verwaltung sich der vorgesestzten Instanz gegenüber dadurch verantwortlich
machen; dem Dritten gegenüber ist der Vertrag so zu erfüllen, wie er in
concreto geschlossen worden ist“. Unseres Erachtens würde die Eisenbahn
oder ihr Beamter im Falle der Bewilligung anderer Bedingungen, als der durch
die Verkehrs-Ordnung vorgesehenen, nicht nur pflichtwidrig, sondern wegen
mangelnder Legitimation auch ungültig handeln. Dies harmonirt mit der
Auffassung des Reichsgerichts im Urtheil vom 13. Febr. 1886 (s. oben No, 8),
wo unter Anderem gesagt ist, dass die Organe der Eisenbahn nur auf Grund
des Reglements abzuschliessen bevollmächtigt sind und eine Berücksichtigung
besonderer Momente ausgeschlossen ist.
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